Liebe, Krieg und Chaos
Rezensionen , Romane / 21. März 2022

Nino Haratischwili,  der Name ist Garant für eine eher selten gewordene Leidenschaft am Erzählen.  Auch diesmal. Ein Buch, schwer wie ein Backstein, das auch manchmal schwer im Magen liegt. Doch Nino Haratischwilis neuer gewichtiger Roman „Das mangelnde Licht“ ist auch ein Buch, das man kaum aus der Hand legen will, ein mitreißender Roman trotz der allgegenwärtigen Gewalt, von der er – auch – erzählt. Die in Georgien geborene Nino Haratischwili, die schon mit ihrer Familiensaga „Das achte Leben für Brilka“ überzeugt hatte, zeigt sich in diesem Roman über die Umbruchszeit der 1980er und 1990er Jahre wieder als großartige Autorin. Beklemmend aktuell Man könnte ihr vielleicht ihre überbordende Erzähllust vorwerfen, ihre geringe Scheu vor Klischees, Metaphern und der Verwendung von Adjektiven. Aber all das ist marginal angesichts der beklemmenden Aktualität und der spannenden Konstruktion dieses Romans. Es ist eine Fotoausstellung in Brüssel, bei der sich drei der vier georgischen Freundinnen nach Jahrzehnten wieder treffen. Und anhand dieser Fotos nimmt die Ich-Erzählerin, die Restaurateurin Keto die Leser mit in ihre Heimat und in ihre Kindheit in der Hauptstadt Tbilissi. Ein Spiegel der Gesellschaft Aufgewachsen ist Keto mit ihrem nach dem Tod der Mutter geistig stets abwesenden Vater, zwei hoch gebildeten Großmüttern und…

Vom Zauber der Berge
Reisebücher , Rezensionen / 10. März 2022

Andreas Lesti liebt die Berge – und die Literatur. Und so hat sich der in Augsburg geborene und in Berlin lebende Journalist und Autor auf den Weg gemacht, in der Schweiz den Zauber zu erforschen, den die Berge dort auf Künstler und Literaten ausübten. Sein Buch „Zauberberge“, zauberhaft aufgemacht mit einem Leineneinband und alten Fotografien vor jedem Kapitel, folgt den Spuren deutscher Dichter und Denker in der Schweiz. Ein Berg an Büchern Lesti hatte sich im ersten Jahr der Pandemie aufgemacht und musste aufgeben. Im Sommer kehrte er zurück. Als erstes stand Davos auf dem Reiseplan. Davos, natürlich, Schauplatz von Thomas Manns „Zauberberg“. Der Roman über einen jungen Mann, „der sieben Jahre nicht mehr wegkam aus den Schweizer Bergen“. So lange hält es Andreas Lesti nicht in der Gebirgsstadt, obwohl er einen ganzen Berg Lektüre dabei hat – neben Thomas Manns Zauberberg auch den weitgehend unbekannte „Zauberlehrling“ von Erich Kästner, Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ oder Theodor Adornos „Minima Moralia“. Das Schicksal der Villa Stein Er wird also viel lesen auf dieser Reise – und sich verzaubern lassen. Die Spurensuche führt ihn in Davos von der Schatzalp zum Waldhotel und ins Medizinische Museum, wo er versucht, dem morbiden Kult um die…

Future Fairy Tales: Novella und Cyberbella
Kinderbücher , Rezensionen / 3. März 2022

Rapunzel wird zu Novella, Dornröschen mutiert zu einer kyrokonservierten (tiefgefrorenen) Schönheit und der böse Wolf ist ein Vergewaltiger aus einer anderen Welt. In  Future Fairy Tales  erzählt Holly-Jane Rahlens tatsächlich Geschichten aus einer anderen Welt. Manche der Grimmschen Märchen sind so verwandelt, dass man sie kaum mehr erkennt. Froschkönig und Cyborg Adieu, ihr kühnen Prinzen und wunderschönen Prinzessinnen!  Willkommen, Fortschritt. Der Froschkönig  ist ein Cyborg, ein Maschinenmensch, der trotz seines amphibischen Aussehens menschliche Gefühle hegt. Cyberbella ist alles andere als ein Aschenputtel, auch wenn sie als Computernerdin ihren Stiefbrüdern bei Computerproblemen helfen muss statt sich zu amüsieren. Es ist auch kein Prinz, dem sie schließlich ihr Herz schenkt, sondern ein Mädchen mit ähnlichen Vorlieben. Mädchen machen mobil Überhaupt die Mädchen! Alles andere als hilflose Hascherl. Schneewittchen, zum Beispiel, ist die selbstbewusste Tochter eines Mafia-Bosses. In einem Interview kritisiert sie die Netflix-Serie über ihr Leben und entlarvt viele der märchenhaften Details als Lügen. Da kommt das Sterntaler-Märchen noch besser weg, das eine Influencerin in den Mittelpunkt stellt. Sie wirbt für den „megacoolen“ Hotspot Las Vegas.  Und dann  erzählt sie von ihrem Weg in die Glitzermetropole, auf dem sie alles bis auf ihr letztes Hemd verschenkt hat. Zum Lohn gewinnt sie dann…

Der andere Tell
Rezensionen , Romane / 28. Februar 2022

Ui, da hat Joachim B. Schmidt den Schweizer Nationalhelden Tell ganz schön zerzaust. Ein armer Bergbauer ist sein Tell, der so gar nichts von Schillers Heldenmut hat. Erzählt wird die Anti-Heldengeschichte von einem Chor von Zeitzeugen. Darunter auch von Walter, dem Sohn, dem Wilhelm Tell auf Befehl des habsburgischen Reichsvogts Gessler den Apfel vom Kopf schießen muss. Desolate Lebensverhältnisse Der Schweizer Schmidt nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er seine Erzähler die desolaten Lebensverhältnisse der Bauern beschreiben lässt, die Kleingeistigkeit in den engen Tälern. Nichts da von politischer Aufmüpfigkeit oder einem „einig Volk von Brüdern“. Nur ein täglicher Kampf ums nackte Leben und gegen eine Diktatur, die selbst die armseligste Existenz durch immer neue Schikanen bedroht. Der Gegenspieler von Tell Ja, auch der Gesslerhut spielt seine Rolle, aufgesteckt, um das dumpfe Bauernvolk Mores zu lehren. Der Harras hatte die Idee, Gesslers Sicherheitschef. Ein bösartiger Intrigrant ist das bei Schmidt und ein gemeiner Leuteschinder. Die Bauern verachtet er genauso wie den Reichsvogt, seiner Meinung nach ein verweichlichtes Bürschlein. Schmidt macht ihn zum eigentlichen Übeltäter und damit zum Gegenspieler Tells. Harras verkörpert die dunkle Seite der Macht, ein echter Kotzbrocken. Schwacher Reichsvogt Im Gegensatz zu ihm ist Schmidts Gessler durchaus zu…

Der Feind in der Wohnung
Rezensionen , Romane / 26. Februar 2022

„Unser Glück“ heißt der Roman von Natalie Buchholz, und er erzählt vom Scheitern dieses Glücks.  Coordt und Franziska sind eigentlich ein glückliches Paar, und als der kleine Frieder noch dazu kommt, könnte alles perfekt sein. Doch es gibt immer etwas, was nicht so recht passt. Für die kleine Familie ist die Wohnung in Giesing zu klein geworden. Da kommt das Angebot einer großzügigen, ja luxuriösen Wohnung in einem Nobelviertel gerade recht, zumal die Miete eher moderat ist. Doch das Ganze hat einen Haken: Sie müssen einen Mitbewohner akzeptieren, den sie nicht kennen. Das Glück kehrt zurück Coordt,  dessen Perspektive Natalie Bucholz sich zu eigen macht,  ist skeptisch. Doch Franziska ist von der neuen Wohnung so begeistert, dass sich das Paar auf das Experiment einlässt.  Und tatsächlich scheint mit dem Einzug in die neue Wohnung das schon länger vermisste Glück wieder zurück in der jungen Familie.  Franziska lebt in der noblen Umgebung auf, findet in der Goldschmiedin Majtken eine bewunderte Freundin. Der Mitbewohner als Brandbeschleuniger Nur Coordt macht der unbekannte Mitbewohner zu schaffen. Zu Recht, wie sich bald herausstellen sollte. Denn der Mann begnügt sich nicht mit einem Geister-Dasein, er dringt in das Privatleben der Mieter ein, ja beraubt Coordt seiner…

Hexenjagd in Russland
Rezensionen , Romane / 26. Februar 2022

Sasha Filipenko, geboren in der belarussischen Hauptstadt Minsk, weiß, was Andersdenkenden im russischen Einflussgebiet droht: „Die Universität, an der ich in Minsk studiert habe, wurde von Lukaschenko geschlossen. Das Institut der freuen Künste und Wissenschaften, an dem ich daraufhin in Russland studiert habe, wurde von Putin geschlossen. Der unabhängige TV-Sender Doschd, bei dem ich gearbeitet habe, gilt heute als ausländischer Agent.“ In seinem neuen Roman „Die Jagd“ hat er persönliche Erlebnisse ebenso verarbeitet wie Erfahrungen von Kollegen. Herausgekommen ist ein Buch von beklemmender Aktualität gerade in Zeiten russischer Großmachtsbestrebungen. Im Fadenkreuz der Mächtigen Im Fadenkreuz der Mächtigen steht der aufrechte Journalist Anton Quint, ein junger Familienvater. Lange glaubt er daran, mit seinen Posts und Recherchen die Welt um sich herum zum Besseren verändern zu können. Quint zieht in den Kampf gegen die Korruption wie einst Quichotte in seinen gegen die Windmühlen.  Das Leben wird zur Hölle Doch das System schlägt zurück, erbarmungslos. Der korrupte Oligarch Wolodja Slawin setzt ein paar Typen auf den Journalisten an, die ihm das Leben zur Hölle machen. Ihr gnadenloser Vernichtungsfeldzug gilt auch der Familie des Opfers.  Quint soll dazu getrieben werden, außer Landes zu gehen. Für die Hexenjagd sind alle Mittel recht:  bösartige Verleumdungen, Dauer-Lärmbelästigung, …

Das Leben an der Raststätte
Reisebücher , Rezensionen / 21. Februar 2022

„Die Raststätte ist Deutschland im Kleinen. Ein Mikro-, ein Makrokosmos“ schreibt Florian Werner in seinem Buch  Die Raststätte. Und diesen Mikrokosmos erkundet er in der Raststätte Garbsen Nord bei Hannover. Nach dem Motto pars pro toto, eine für alle. Kleine Geschichte der Raststätte So erfahren die Lesenden erst einmal jede Menge Interessantes: Dass es in Deutschland 450 Autobahnraststätten gibt und mehr als eine halbe Milliarde Reisende, die dort einkehren. Dass dort Abertausende arbeiten und Heerscharen von Lkw-Fahrern ihre Frei- und Schlafenszeit verbringen. Dass die Geschichte der Raststätten in den 1930er Jahren begann, verbunden mit dem Bau der Reichsautobahnen. Nostalgie im Gästebuch Und warum gerade Garbsen Nord „ein Ort von hinreißender Durchschnittlichkeit“? Weil die 1954 eröffnet Raststätte quasi in der automobilen Mitte Deutschlands liegt. Der Betreiber der Anlage, Autobahngastronom in der dritten Generation, schwelgt im Gespräch mit dem Autor in nostalgischen Erinnerungen, die er auch ledergebunden im Gästebuch vorlegen kann. Das System Sanifair Das hindert Florian Werner nicht, sich kritisch mit dem System Sanifair samt Wertebons auseinanderzusetzen. Und mit Tank & Rast, die etwas 95 Prozent der deutschen Raststätten betreibt und einem internationalen Konsortium gehört – bestehend u.a. aus einem Tochterunternehmen der Allianz, einem kanadischen Pensionsfonds und dem Staatsfonds von Abu…

Das Leben feiern
Reisebücher , Rezensionen / 19. Februar 2022

Andreas Altmann hat viel erlebt in seinem Leben – und viel geschrieben. Wunderbare Reportagen aus aller Welt, kritisch, lebensprall. Denn dieser Reporter war immer mit vollem Einsatz unterwegs – und mit offenen Augen und einem offenen Herzen. Das zeigt die Reportagen-Sammlung „Bloßes Leben“, in der Altmann noch einmal vorführt, wofür er gelobt und bewundert wurde. Der Titel „Bloßes Leben“ verweist auf die Endlichkeit aller materiellen Güter, auf das Existentielle. Vergangene Zeiten Und sollte doch auch zeigen, dass viel Zeit über manche dieser Reportagen hinweg gegangen ist. Längst hat sich die Volksrepublik das aufmüpfige Hongkong radikal einverleibt, hat so mancher Held der Reportagen das Zeitliche gesegnet. Und doch lohnt sich die Lektüre, denn  Andreas Altmann versteht es wie nur wenige, die Lesenden hineinzusaugen in seine Abenteuer, sie unmittelbar mit seinen Erlebnissen zu konfrontieren. Mittendrin im Reporterleben Da findet man sich mitten in der lebensgefährlichen Wallfahrt zum Penis aus Eis im Himalaya oder taucht ein in eine von Kairos „Städte der Toten“, einem Friedhof, der dabei hilft, „etwas vom Leben und Sterben der Menschen“ zu lernen.  Dieser Reporter muss nichts erfinden, um spannende Reportagen zu schreiben. Seine Neugier treibt ihn an, er schreckt vor nichts zurück, nicht vor Krankheit, schon gar nicht…

Reisen und feiern
Reisebücher , Rezensionen / 15. Februar 2022

Celebrate? Feiern? Feierwütige haben‘s schwer in diesen Zeiten: Straßenkarneval in Rio: abgesagt. Rosenmontagszüge am Rhein: abgesagt. Oktoberfest in München: abgesagt. Ja, wo kann man denn da noch feiern? Vielleicht im Sommer mit Karibik-Feeling in England beim Notting Hill Carnival. Oder im Juni bei der Pride in San Francisco, einer schillernd bunten Parade der Lebensfreude. Der Bildband Celebrate! hat jede Menge Anregungen. Feiern in Grün und Orange Auch Nationalfeiertage werden gern ausgiebig gefeiert, zum Beispiel am 17. März der St. Patrick‘s Day. Der irische Nationalheilige sorgt auch dafür, dass Gebäude und Sehenswürdigkeiten in aller Welt an seinem Feiertag grün eingefärbt werden – zur Erinnerung an das dreiblättrige Kleeblatt, mit dem der Heilige die Dreifaltigkeit erklärt haben soll. In den Niederlanden färbt der Königstag am 27. April das ganze Land orange. Die gewohnte Party könnte allerdings wegen Corona etwas bescheidener ausfallen. Feste für alle und alles Auch religiöse Feste haben es in sich. Weltweit bekannt ist die Kumbh Mela in Indien, zu der noch bis Anfang März Millionen Pilger an einen der vier heiligen Orte strömen, in diesem Jahr nach Allahabad. In Spanien wird die Karwoche mit großem Pomp begangen, und im australischen Arnhemland zelebrieren Aborigines ihre Kultur beim jährlichen Garma Festival…

Ein Afghane in Italien
Rezensionen , Romane / 6. Februar 2022

17 Jahre ist es her, dass der jugendliche Enaiat nach einer jahrelangen, beschwerlichen Flucht Italien erreicht hat. Sein Vater war in Afghanistan getötet worden, die Mutter hatte ihn nach Pakistan in Sicherheit gebracht und war mit den jüngeren Geschwistern zurück geblieben, bedroht von Verfolgung und Krieg. In Italien begegnet der junge Afghane dem Autor Fabio Geda, der seine Geschichte aufschreibt. Das Buch „Im Meer schwimmen Krokodile“ wird ein Verkaufshit und in 33 Sprachen übersetzt. Fabio Geda hilft beim Buch Im neuen Buch „Im Winter Schnee, nachts Sterne“ berichtet Enaiat nun selbst, wie es weiter ging – hin und wieder unterstützt von Fabio Geda. Der junge Afghane fühlt sich in Italien angekommen, kann lernen, sogar studieren. Hier hat er Freunde, baut sich eine Existenz auf. Aber er weiß auch, dass seine Mutter und seine Geschwister in ständiger Bedrohung und unter erbärmlichen Umständen leben. Sehnsucht nach der Heimat Auch von diesem Leben erzählt Enaiat – manchmal fast lakonisch, dann wieder voller Poesie. Seine Sprache ist durchdrungen von der Sehnsucht nach dem verlorenen Land seiner Kindheit: „Ich heiße Enaiatollah Akbari, aber alle nennen mich Enaiat. Ich kam in Afghanistan zur Welt, im Hazarajat, einer sehr unwegsamen, felsigen Bergregion westlich von Kabul, übersät von…