Es ist ein Kosmos der Abgehängten, den Angelika Klüssendorf in ihrem Roman „Vierunddreißigster September“ schildert. Ihr Zuhause ist ein ödes Kaff in der ehemaligen DDR, grau und trostlos wie die Menschen, die es bevölkern: Der Säufer Heinrich, der einbeinige Hans, die dicken Hubert, Bipolarchen, Eisenalex, die Transfrau Gabriela, die Schriftstellerin und ihr Trommler, das Rollschuhmädchen und natürlich auch Hilde und Walter. Das Paar, mit dem alles beginnt. Rätselhafter Totschlag Ein Paukenschlag: In der Silvesternacht schlägt Hilde ihrem an einem Gehirntumor erkrankten Ehemann den Schädel ein. Danach geht sie tanzen und verschwindet spurlos, während Walter als Toter auf sein Leben schaut – und das des Dorfes. Warum Hilde ihn erschlagen hat, nachdem der Tumor den Wütenden zu einem ruhigen Mann gemacht hatte? Er wird es nie erfahren. Auch nicht, wo Hilde abgeblieben ist. Nur, dass sie Gedichte schrieb auf Tschuktisch, die er mühsam zu entziffern sucht. Existentielle Fragen „Die Hölle wäre zu wissen wer du wirklich warst“, bescheidet ihn der philosophierende Dr. Freud. „Warum wird man überhaupt geboren?“ fragt einer der Dorfbewohner den anderen. „Für welche Idee würdest du sterben?“ Der andere zuckt die Achseln. Angelika Klüssendorf stellt die existentiellen Fragen, doch die Antworten bergen keinen Trost, sind von einer bestürzenden…
Janine Adomeit überrascht mit einem lebensklugen und unterhaltsamen Debüt. Ein heruntergekommener Kurort, dessen Heilquelle versiegt ist, eine Handvoll mehr oder eher weniger sympathischer Bürger und ein paar junge Umweltaktivisten. Das ist der Ausgangspunkt ihres Romans „Vom Versuch einen silbernen Aal zu fangen“. Soweit so ungut. Viele Hoffnungen Doch dann wird bei Bauarbeiten ein Rinnsal entdeckt – mit den Eigenschaften der ehemaligen Heilquelle. Und schon schießen die Hoffnungen ins Kraut. Villrath könnte in altem Glanz wieder auferstehen, meint der etwas unseriöse Bürgermeister. Und Vera, die letzte Trägerin der Villrather Nixenkrone und trinkfreudige Wirtin der ertraglosen Kneipe „Stübchen“ denkt daran, ihren Traum von einem eigenen Frisörsalon zu verwirklichen und das Stübchen zu verkaufen. Kauziges Personal Zu den beiden gesellen sich noch einige kauzige Figuren: Der spießige Rentner Kamps, der sich mit einem Gewehr gegen vermeintliches Pack in Stellung bringt und seine Katzenschar lieber mag als seine Mitmenschen. Hotte, der ewige Verlierer, und seine Bärbel, die Schmalspur-Wahrsagerin. Veras Sohn Johannes, der keine Freunde hat und sich vor allem für Motorräder interessiert. Der charmante aber zwielichtige Harry, von dem Johannes die Erfüllung seiner Träume erwartet. Auch nette Seiten Dazu ein smarter Immobilienvertreter und ein Häufchen Umweltaktivisten, die beim Einsatz ihrer Mittel auch nicht grade…
Bachtyar Ali gilt als der bekannteste zeitgenössische Schriftsteller des autonomen irakischen Kurdistan. Seit Mitte der 1990iger Jahre lebt er im Exil in Köln. Doch in seinen Romanen und Gedichten kehrt er zurück in seine Heimat. So auch im Roman „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“, einem modernen Märchen. Djamschid Khan heißt dieser Onkel, wie der Autor ist er Kurde, und nach Foltererfahrungen nicht nur Haut und Knochen, sondern leicht und durchsichtig wie Papier. Höhenflüge und Bodenhaftung So leicht ist Djamschid, dass er immer wieder vom Wind erfasst und verweht wird, wobei er jedes Mal einen Teil seiner Erinnerungen verliert. So wird er zum heimatlosen und geschichtsvergessenen Menschen. Dafür ist er fähig zu Höhenflügen – gesichert an einem Seil, das seine Neffen Salar und Smail halten. Und doch reißt der Wind den papierdünnen Mann immer wieder mit sich fort. Odyssee am Himmel Es ist eine wilde Odyssee, wie Djamschid selbst einmal seine Flüge beschreibt. Und immer wieder erfindet er sich neu – als Aufklärungsflieger und Pazifist, als Frauenheld und Ehemann, als Gottgesandter und Prophet, als ruchloser Schlepper, als Volksbelustigung wider Willen und später als skrupelloser Erpresser. Während der Onkel ohne Erinnerung durch seine Abenteuer treibt, bleibt sein Neffe Salar Khan dem…
Ob das Reisen 2022 wieder so wird, wie es einmal war, steht in den Sternen. Aber träumen wird man ja wohl noch dürfen. Und dazu lädt auch diese Neuauflage von Lonely Planets „Best in Travel 2022“ ein. Alle Jahre wieder kürt der Verlag zehn Länder, zehn Regionen und zehn Städte mit Wow-Faktor. Cook Inseln und Norwegen Garantiert ist der bei den Cook Inseln und Mauritius aber auch bei Norwegen, das als „führend in Sachen Nachhaltigkeit und grüne Technologie“ gilt. Auch dass das neue Munch-Museum und das renovierte Nationalmuseum in diesem Jahr erstmals ihre Türen für die ganze Saison öffnen, hat wohl dazu beigetragen, dass Norwegen sich als Land zwischen die Cook Inseln und Mauritius schieben konnte. Freiburg auf dem Treppchen Viel Exotisches stellen die Reiseexperten von Lonely Planet auf gut 200 Seiten vor. Immerhin kann auch Europa zwischendurch punkten – vorwiegend bei den Städten. Und da konnte sich auch eine deutsche Stadt platzieren: Freiburg im Breisgau schaffte es aufs Treppchen hinter Auckland und vor Taipeh, als „charismatische, umweltbewusste Schwarzwaldmetropole“. Platz 6 gab es für Nikosia/Zypern, Platz 7 für Dublin und Platz 9 für Florenz. Island punktet mit Westfjorden Bei den Regionen stehen die Westfjorde in Island als zertifizierte nachhaltige Reiseziele…
Die wenigsten Österreicher wissen, dass im ersten und zweiten Weltkrieg im niederösterreichischen Hirtenberg die größte Munitionsfabrik Mitteleuropas stand. In ihrem Roman „Was bei uns bleibt“ holt die Wienerin Didi Drobna die Fabrik und ihre Geschichte aus der Vergessenheit. Noch Ende 1944 hatten die Nationalsozialisten hier das „KZ-Außenlager Hirtenberg“ errichtet und die rund 400 Zwangsarbeiterinnen in der Patronen-Produktion eingesetzt. Folgenschwerer Irrtum Klara freilich, die Protagonistin des Romans, hat sich freiwillig zu der gefährlichen Arbeit gemeldet, die sie mit rund 3000 anderen Frauen teilt. Trotz vieler Erschwernisse ist die junge Frau anfangs stolz auf ihre das Reich stützende Arbeit. Erst als die Frauen aus dem Außenlager hinzukommen und die Aufseher immer brutaler agieren, wird ihr klar, dass sie einem Irrtum aufgesessen war: „Wir dachten, wir wären wichtig. Aber das waren wir nicht. Wir waren austauschbar.“ Als das Ende der Fabrik droht und das Lager aufgelöst wird, fasst Klara einen folgenschweren Entschluss… Unterschiedliche Perspektiven Didi Drobna lässt in ihrem mehrstimmigen Roman nicht nur die junge Klara zu Wort kommen, sondern auch die inzwischen 84 Jahre alte Klara, die mit ihrem erwachsenen Enkel Luis zusammenlebt. In den Chor der Erzählstimmen reihen sich neben Luis auch der Nachbar Horst mit ein und seine Tochter Dora,…
Der Journalist Peter Hinze hat sich in die Gegend von Upper Dolpo verliebt, als er sie auf seinem „Great Himalaya Trail“ kennengelernt hat. 1864 Kilometer in 87 Tagen ist er 2017 gelaufen, quer durch Nepal. Weil Upper Dolpo „die Krönung“ seines Laufs war, hat sich der Trailrunner noch einmal auf den Weg gemacht. Hat sich auf Spurensuche begeben nach dem Glück. Danach, wie die Menschen in scheinbar gottverlassenen Höhen ihr hartes Leben meistern. Gefährdete Kultur Hinze hat sich mit gelebten Traditionen und einem unerschütterlichen Glauben auseinandergesetzt. Er hat Zufriedenheit kennengelernt, die auf Gelassenheit, Demut und Achtsamkeit beruht – und auf Gemeinschaft. Aber er musste auch erfahren, dass all das die Menschen nicht vor Tragödien schützt. Und er ahnt immer mehr, wie gefährdet diese Kultur durch die Errungenschaften der Neuzeit, den Einfluss Chinas und den Klimawandel ist. „Der Himalaya mag weltweit ein einzigartiges Image haben, in der Region selbst kann kaum jemand allein damit seinen Alltag bestreiten“, schreibt er in dem eindrucksvollen Buch „100 000 Schritte zum Glück“. Kein Shangri-La In 13 Kapiteln lädt er die Lesenden dazu ein, ihm in das Hochtal zu folgen, mit ihm die Mühen des Aufstiegs zu erleben, Regen, Schnee und Eiseskälte aber auch Gastfreundschaft und…
Tom Hillenbrand („Montecrypto“, „Qube“) ist als Autor von Wissenschaftsthrillern inzwischen über die Krimi-Schiene hinausgewachsen. Und doch haben auch die kriminellen Geschichten um Xavier Kiefer, den Luxemburger Koch mit der guten Spürnase und seine Freundin, die Gastrokritikerin Valerie Gabin, immer eine wichtige Botschaft. Der ehemalige Spiegel-Journalist hat sich gründlich in der Gourmet-Szene umgesehen und verpackt aktuelle Probleme in eine oft mörderisch spannende Geschichte. Bienensterben und Industrie Das trifft auch auf den neuesten Kiefer-Krimi zu: In „Goldenes Gift“ greift Tom Hillenbrand die Diskussion um das Bienensterben ebenso auf wie die industrielle Honigproduktion. So mancher Imker wird den Krimi mit Unbehagen lesen, weil er darin Gefahren erkennt, mit denen auch bei uns in den nächsten Jahren zu rechnen ist. Und so manche Honigliebhaberin wird nach der Lektüre genauer hinschauen, was auf dem Etikett ihres Lieblingshonigs steht. Globale Verwicklung Mord und Totschlag wie im Krimi drohen zwar weder dem einen noch der anderen, das bleibt Kiefer und Gabin vorbehalten. Auch diesmal entgeht der allzu neugierige Koch nur knapp einem tödlichen Anschlag, als er den Mördern seines Imkers (Schneider) auf die Spur kommt. Dass Valeries Recherchen in den USA und in Frankreich mit den mörderischen Ereignissen in Luxemburg zusammenhängen, will der Koch lange nicht wahrhaben. …
Der Ozean ist eine Welt für sich, geheimnisvoll, scheinbar grenzenlos und extrem gefährdet. Denn durch menschliche Eingriffe verändern sich die Weltmeere, das Wasser erwärmt sich, der Sauerstoff nimmt ab, Tiere sterben aus. Die Folgen können auch die Existenz der Menschheit bedrohen. „Unser Leben hängt vom Meer ab, die Gesundheit und die Zukunft des Meeres von uns“, schreibt die Meeresbiologin Mariasole Bianco im Vorwort zu ihrem Buch „Planet Ozean“. Sagenumwobene Tiefsee Sie will die Menschen für die Schönheit und die Gefährdung des Meeres sensibilisieren und nimmt sie mit in die Sagen umwobene Tiefsee mit Vulkanen, Wasserfällen und einer Vielfalt von Lebewesen. Nach der Dämmerzone, einer Wunderwelt mit leuchtenden Würmern, Quallen und Fischen, geht es in die „tiefsten Tiefen“, die bis hinunter auf 11 000 Meter reichen. Dorthin, wo im Ozean ewige Dunkelheit herrscht und „Meeresflocken“ zu einem Fest für Tiere werden, die in dieser lebensfeindlichen Umwelt existieren. Die Plastik-Gefahr Perfekte Symbiosen. Und doch ist es dem Menschen gelungen, das natürliche Gleichgewicht zu zerstören – allein durch Plastikmüll. Jedes Jahr gelangen etwa acht Millionen Tonnen Plastik in die Ozeane, „das ist so, als ob jede Minute ein Müllwagen seine Ladung ins Meer schütten würde“. Noch schlimmer sind Mikroplastik-Partikel, wovon es heute in…
Bald sind Weihnachtsferien, und dann sind die Tage oft lang. Lesen hilft nicht nur gegen Langeweile. Bücher können Anstoß dafür sein, sich zu engagieren. Sie können aufklären, anregen, unterhalten. Bücher sind die reinsten Wundertüten, wenn man sie richtig nutzt. Und diese Bücher machen neugierigen Kindern und kleinen Leseratten nicht nur an Weihnachten Freude. Das Neinhorn und die Schlangeweile Das Neinhorn von Marc Uwe Kling hat schon jetzt jede Menge kleine Fans. Denn wer kann besser nachvollziehen, wie lustig Neinsagen ist als Kinder? Jetzt gibt es ein neues Abenteuer, in dem zu den vier Freunden NEINhorn, KönigsDochter, WASbär und NahUND die SchLANGEWEILE dazukommt. Auch eine Vertreterin einer Stimmung, die Kinder gut kennen. Wem ist denn nicht mal langweilig? Vor allem in Corona-Zeiten? Doch wozu gibt es Freunde? Gemeinsam ist das Leben gleich viel lustiger – auch für die SchLANGEWEILE. Astrid Henn hat das Abenteuer wieder lustig in Szene gesetzt und sogar eine mehrseitige Panoramaweltsicht dazu gezeichnet. Und für alle, die sich doch mal wieder langweilen, nachdem sie das Bilderbuch mehrmals gelesen haben, gibt es am Ende wieder ein witziges Rätsel mit vertauschten Tieren und dazu noch das „Schleiterspiel“. Da ist mindestens ein vergnüglicher Nachmittag garantiert. Info Marc-Uwe Kling/Astrid Henn. Das NEINhorn…
Roberto Alajmo ist in Palermo geboren. Er hat als Journalist über Politik und Kultur in Sizilien geschrieben – und auch diesen „sogenannten Reiseführer“, wie er das Buch „Palermo ist eine Zwiebel“ nennt. Gerichtet ist dieser inzwischen aktualisierte Führer an einen anonymen Palermo-Besucher, dem Alajmo die Augen öffnen will für die Schönheit und die Hässlichkeit seiner Stadt. Denn für den Schriftsteller vereint Palermo Gegensätzliches wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, ist zart und grausam zugleich, Stadt der Mafia und der Mafiajäger. Das Palermo der Klischees Wer die zwölf Kapitel dieses ungewöhnlichen Reisebuchs liest, wird mit vielen Klischees zu Palermo konfrontiert – und damit, wie falsch sie sind. „Früher oder später musst du dich der Stadt stellen“, ermuntert Alajmo den anonymen Besucher – ob mit dem Auto, dem Rad oder womöglich mit einer Lapa, der sizilianischen Ape-Variante. Und dann geht es hinein ins pralle Palermo-Leben – mit Plastik-Pagoden und kariösen Häusern, mit Müll und Mafia, Totenkult und Siesta aber auch mit dem Sonnensystem der Konditoreien und den arabisch-normannischen Spuren. Widersprüche und Extreme Man liest vom „zufriedenen Pessimismus“ der Palermitaner, vom „kreativen Bauwesen“ am Strand, von Schattenreichtum und dem Elend des Adels. Schließlich La Kalsa, das von den Bomben der Alliierten weitgehend zerstört…