Die Italienerin Nicoletta Verna hat bisher Sachbücher geschrieben. „Der Wert der Gefühle“ ist ihr Romandebüt. Und das ist ziemlich aufregend: Sie sind ein glamouröses Paar, die schöne Bianca und der erfolgreiche Herzchirurg Carlo. Doch sind sie auch glücklich? Zumindest bei Bianca, der Ich-Erzählerin in Nicoletta Vernas verstörendem Roman, kommen schnell Zweifel auf. Was hat es auf sich mit ihrem Zwang, Abfälle zu sortieren? Oder Dinge zu kaufen, um sie im Müll zu entsorgen? Das Drama ihres Lebens Nicoletta Verna gibt immer wieder kleine Hinweise auf ein Drama, das Biancas Leben überschattet – es ist der Tod ihrer bewunderten Schwester Stella. Doch warum das so ist und wie die 14-jährige Stella gestorben ist, das enthüllt sich den Lesenden nur ganz allmählich. Der Tod und seine Folgen Dafür erfahren sie, dass Biancas Mutter nie über den Tod ihrer älteren Tochter hinweg gekommen ist, dass der Vater die trauernde Familie verlassen hat, dass Bianca kaum Freunde oder Freundinnen hat. Außer Liliana, die engste Freundin Stellas, die auf den Rollstuhl angewiesen ist. Sie macht ihr Handicap allen anderen zum Vorwurf und scheint eine sadistische Freunde dabei zu empfinden, Bianca mit Erinnerungen an ihre tote Schwester zu quälen. Und dann wäre da noch die selbstgefällige…
Stephan Orth liebt das Reisen, gern zu Sofas in aller Welt. Doch in Corona-Zeiten war es nichts mit Couch-Surfing. „Nun stattdessen Einreisebeschränkungen, Flugausfälle, Abstandsregeln. Es ist, als wolle uns ein mikroskopisch kleines Virus klarmachen, endlich mit den Makro-Reiseexzessen aufzuhören und einzusehen, dass es nicht normal ist, für ein Viertel oder Sechstel eines Monatsgehalts um die halbe Welt zu fliegen.“ Aus- statt eingesperrt Doch immer nur zu Hause zu sitzen war auch nichts für den umtriebigen Journalisten, zumal er sich auch immer bewusst ist, dass „ohne persönliche Begegnungen ferne Länder immer abstrakter werden“. So kam er auf die Idee, vier Wochen durch sein einstiges Lieblingsland England zu reisen und dabei immer draußen zu bleiben. Aus- statt eingesperrt also. Zu Fuß, mit dem Rad, auch mal auf dem Fluss in einem Paddelboot. Ein Weg ohne Reiseführer „Ich bin eine Art pandemischer Katastrophentourist“, schreibt Stephan Orth am Anfang. Als solcher wird er viel erleben und sich immer mehr ans Draußensein gewöhnen. Und am Ende, nachdem er mehr als 750 Kilometer aus eigener Kraft geschafft hat „auf einem Weg, der in keinem Reiseführer der Welt vorgeschlagen wird“, könnte er sich vorstellen, wieder mal „ein fröhlicher Landstreicher mit Kreditkarte, Regenjacke und Auslandskrankenversicherung“ zu sein. Ein…
Kann es sein, dass traumatische Erlebnisse der Vorfahren auch noch die Nachkommen belasten? Alex Schulman ist überzeugt davon, dass sein Großvater, der Schriftsteller Sven Stolpe, an seinen unvermittelten Wutanfällen Schuld trägt. Weil er damit nicht nur seine Frau schockiert, sondern auch seinen Kindern Angst einjagt, beschließt er, dieser Wut auf den Grund zu gehen. Dabei stößt er auf ein Familiengeheimnis, das ihn zu einem Roman inspiriert. In „Verbrenn alle meine Briefe“ beschreibt Alex Schulman die eigenen Probleme, dokumentiert seine Expedition in die Familiengeschichte und konzentriert beides in einer anrührend poetische Liebesgeschichte. Die Wut des Großvaters Die Wut des Großvaters, davon ist der Enkel überzeugt, hat die ganze Familie vergiftet: „Meine Mutter war die Jüngste von vier Geschwistern, sie hatte zwei Brüder und eine Schwester. Ich versuche, mich zu erinnern, aber ich glaube, ich habe nie alle vier zusammen gesehen. Sie hassten einander in wechselnden Konstellationen, Konflikte zogen sich über Jahrzehnte hin.“ Auch er selbst scheint davon vergiftet. Die Angst der Großmutter Alex Schulman erinnert sich an die Ferien bei den Großeltern, an den ewig unzufriedenen, mürrischen Großvater und die beflissene, ängstliche Großmutter. „Ich erinnere mich an ihre ständige Unterwürfigkeit, ihre Angst vor seiner Wut… Ich begriff nicht, warum sie ihn…
Nordpolen, das ist ein eher unbekannter Landstrich zwischen Westpommern und Podlachien. Mit seinem gleichnamigen Buch will Carsten Heinke Lust auf Polen machen und Lust darauf, Neues zu entdecken. Also nicht die allseits bekannten Masurischen Seen, sondern lieber die nicht weniger schöne Pommersche Seenplatte. Nicht die Altstadt von Danzig, sondern das alte Werftgelände, Keimzelle des Widerstands der Werftarbeiter unter Lech Walesa gegen die kommunistische Diktatur und mit, wie der Autor meint, „großem Zukunftspotenzial“. Podlachien und die Dünen von Leba Und dann die menschenleere Woiwodschaft Podlachien im Vierländer-Eck Polen, Russland, Litauen und Belarus mit 23 Nationalparks. Unter seine Top 10 in Nordpolen rechnet Heinke die Altstat von Stettin und die Dünen von Leba, höchster Wandersandberg Polens, die Marienburg, das größte Werk der Backsteingotik, oder auch den Nationalpark Bialowieza mit seinen Wisent-Herden. Schiffe auf Schienen und Krummer Wald Auch Kuriositäten hat der Reisejournalist in Nordpolen entdeckt. Zum Beispiel den Oberlandkanal, wo auf einem Abschnitt Schiffe auf Schienen den Berg hochfahren oder den krummen Wald bei Gryfino, zu deutsch Greifenhagen. Kariertes Land der Slowinzen Wikinger, Slawen, westslawische Slowinzen, Tataren, Kaschuben, Juden – sie alle haben in Nordpolen ihre Spuren hinterlassen. Heinke empfiehlt zur Geschichte die Heimatmuseen wie das Freilichtmuseum in Kluki zu den Slowinzen….
Achtung Deutsche Bahn! Da droht Wiedererkennungsgefahr. In dem Büchlein „Wer später kommt, hat länger Zeit“ rechnet Dietmar Bittrich mit der Bahn ab. Und vieles, was er mit spitzer Feder aufspitzt oder öfter auch mal gallig kommentiert, stößt auch den Bahnkundinnen und -Kunden immer wieder sauer auf – nicht erst seit Einführung des 9-Euro-Tickets: Verspätungen, geänderte Wagenreihung, kaputte Klos, nicht vorhandene Bordrestaurants, Durchfahrten ohne Halt, Zugausfälle… Eine ganze Litanei könnte man da herunterleiern. Die Krise als Chance Doch Bittrich begnügt sich nicht mit der Aufzählung der Fehlleistungen der Deutschen Bahn. Dazu wären 157 Buchseiten auch zu viel. Ganz im Sinn eines klassischen Kabarettisten ermuntert er dazu, die Krise als Chance zu sehen, die Bahn als „rollenden Kurs in Wundern“. Da wird dann die geänderte Wagenreihung zum Training plus sozialer Interaktion, werden die Baustellen zum Power-Booster, der alternde Bahnhof zum Wegbereiter der Renaturierung und der Stillstand in der Pampa zur Stressbefreiung. Sündenbock Deutsche Bahn Das liest sich teilweise ziemlich lustig, führt aber in der Dauerschleife zu Ermüdungserscheinungen – selbst beim Lesen in der Bahn. Da hilft auch das vertrauliche „Du“ nicht, mit dem Dietmar Bittrich die Lesenden zu Komplizen seiner Bahnschelte machen will. Zumal die Deutsche Bahn auch für Dauertelefonierer, Hooligans und…
Wendelin Kretzschnuss heißt der Erzähler des Romans „Tage in Vitopia“, ein Eichhörnchen. Aufgeschrieben hat seine philosophierenden Ausführungen Ulla Hahn. Dass sich die 77-jährige Schriftstellerin hinter den Sciurus Vulgaris zurückzieht, hat ihr die Freiheit des Drauflos Fabulierens ermöglicht. Und das tut sie in dem Roman, der die Utopie eines guten Lebens in friedlicher Koexistenz von Mensch, Tier und womöglich auch Cyborg in den schönsten Farben zeichnet. Götter, Gelehrte und Gaia Wie in einem Wimmelbuch tauchen prominente Vertreter der Menschheit auf, Götter und Gelehrte ebenso wie Charaktere aus der Literatur. Schatzhauser, der Wünsche erfüllende Waldgeist aus Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ spielt eine Hauptrolle, Nils Holgersson, Kater Murr und Pinocchio sind dabei. Luther und Jesus von Nazareth, Franz von Assisi und Charles Darwin, Hildegard von Bingen, Marie Curie, Mutter Teresa, Richard Wagner, Wilhelm Hauff, Dichterfürst Goethe, sein persischer Kollege Hafis und unzählige andere geben sich bei den Tagen in Vitopia die Ehre, um die Menschheit wieder auf den rechten Weg zu bringen. Zurück zur Natur. Das ist vor allem das Anliegen von Gaia, der „großen Mutter Erde“, die unter den Zerstörungen der Umwelt ächzt. Marx und Morus Geleitet wird die Weltkonferenz im antiken Epidaurus von Karl Marx und Thomas Morus, von…
Baret Magarian wurde in London geboren, hat armenische Wurzeln und lebt in Florenz, er hat als Journalist, Schauspieler, Theaterleiter und Aktmodell gearbeitet, hat Persönlichkeiten wie Salman Rushdie oder Peter Ustinov interviewt und sich seit Schulzeiten als Autor versucht. Auch diese Erfahrungen münden wohl in den surrealistischen Roman „Die Erfindung der Wirklichkeit“ – zugleich Medienschelte und Gesellschaftssatire. Zwei Männer, ein Plan Im Mittelpunkt stehen zwei höchst ungleiche Männer: Der Autor Daniel Bloch, ein Mann in der Midlife-Krise, der an einer Schreibblockade leidet und auf der Suche nach Intuition ist. Und der junge Oscar Babel, scheinbar ein geborener Looser, der als Filmvorführer arbeitet, nachdem er sich erfolglos als Maler versucht hat. Dann kommt Bloch die Idee: „Ich könnte eine Geschichte über dich schreiben“, sagt er zu Oscar. „Ich würde mir gern ein anderes Leben für dich ausdenken. Eine Parallelwirklichkeit. Ich könnte eine mögliche Zukunft in Worte meißeln.“ Scheinwelt der Social Media Gesagt, getan. Was dann passiert, erschreckt den Autor zu Tode: Oscars Leben passt sich Blochs literarischen Skizzen an. Es beginnt mit einer Katze und führt geradewegs hinein in die Scheinwelt der Social Media. Und während Bloch dem eigenen Projekt immer ängstlicher gegenüber steht – „Weißt du, dass Kunst töten kann?“ hatte…
Charles Lewinsky (Jahrgang 1946) kann vieles: Volkslieder, Sitcoms, Hörspiele. Vor allem aber kann er schreiben. Und wie! Sein Roman „Der Halbbart“ stand 2020 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Preiswürdig ist auch sein neuer Roman „Sein Sohn“. „Von dem Sohn, den der Herzog von Orléans mit der Köchin Marianne Banzori zeugte, ist nur bekannt, dass er im Dezember 1794 zur Welt kam und in einem Waisenhaus in Mailand abgegeben wurde. Alles andere ist Erfindung.“ So steht es am Ende dieses Buches. Suche nach der eigenen Identität Für den fiktiven Lebensweg dieses Sohnes hat sich Lewinsky tief in die Geschichte der nachnapoleonischen Zeit begeben. Doch trotz aller historischen Hintergründe ist „Sein Sohn“ viel mehr als ein historischer Roman. Denn die Suche nach der eigenen Identität ist zeitlos. Für Louis Chabot, den Protagonisten des Romans, beginnt das Leben als Underdog in einem Waisenhaus. Ganz allmählich und mit der Hilfe eines wohlwollenden Marquis arbeitet sich der von allen gemobbte Junge zu einem angesehenen Bürger empor. Viel Glück im Leben Das Glück scheint ihm auch in schlimmen Zeiten hold zu sein. Und Louis Chabot ergreift es mit beiden Händen, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren. Das zahlt sich…
„Namaste Corona“ rufen Jugendliche in Nepal den beiden deutschen Weltenbummlern hinterher, als die Pandemie ihr Land in einen Lockdown zwingt. Gerade so, als seien die „Westerners“ schuld daran. Namaste Corona heißt auch das Buch, das Michael Moritz über seine Erlebnisse in Nepal während des Corona-Lockdowns geschrieben hat. Zum Stillstand gezwungen Der überzeugte Weltenbummler, der Sicherheit, Job, ja sogar die Liebe seiner Reise-Leidenschaft geopfert hat, wird in Nepal zum Stillstand gezwungen. Allerdings mit der Liebe seines Lebens, Anna, mit der er sich nach einem Jahr verabredet hatte. Im Lockdown sucht sich das Paar eine Unterkunft jenseits der überfüllten Städte Nepals, eine Zuflucht auf dem Land. Türen öffnen sich Sie finden eine Hütte über dem Phewa See, in einer idyllischen Landschaft. Doch weitab von allem, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat. Einfach ist das alles nicht, aber mit der Zeit lernen die beiden nicht nur die Nachbarn und Hausvermieter kennen, sie finden auch Freunde im Ort. Und plötzlich öffnen sich Türen zu einer anderen Art von Leben, einem einfachen Leben ohne große Ansprüche. „Ich bin Tourist“ Michael und Anna packen mit an, helfen, wo sie können. Sogar die Jugendlichen lernen die beiden zu akzeptieren. Und Michael Moritz denkt über die unterschiedlichen Lebensweisen…
„Ich erzähle Geschichten. Ich reise hierhin und dorthin“, wird Anthony Bourdain im Vorwort zum Buch „World Travel“ zitiert. Der 2018 verstorbene Starkoch und TV-Moderator war an allen Ecken und Enden dieser Welt unterwegs. Mit „World Travel“ ist postum ein „gnadenlos subjektiver Reiseführer“ erschienen, eine Hommage an den Genießer Anthony Bourdain und seine Welt mit Essays von Freunden und Familienmitgliedern. Im Sound des Spitzenkochs „Braucht die Welt noch einen Reiseführer?“ hatte sich Laurie Woolever gefragt, als sie 2017 mit Anthony Bourdain diese Weltreise in Buchform plante – kreuz und quer über den Globus. Doch nach dem Tod des begnadeten Geschichtenerzählers war die Antwort schnell klar. Und so entstand „World Travel“, ein Reiseführer durch die Welt Anthony Bourdains mit eher wenigen Basisinformationen. Dafür im typischen Sound des erfolgreichen Spitzenkochs und Globetrotters, der sich immer klar darüber war: „Ich schaue hin. Ich höre zu. Doch am Ende weiß ich: Es ist meine Geschichte.“ Ein Hoch auf Paris In diesem Sinn führt „World Travel“ von A wie Argentinien („das ist das Reich des Zweifels“) bis V wie Vietnam („das Land hat mittlerweile einen besonderen Platz in meinem Herzen“). Corona spielt noch keine Rolle, und manche Tipps wie die für Hongkong oder Myanmar sind wohl…