Jonathan Coe („Middle England“) wird immer mehr zum Gewissen der englischen Gegenwart. Auch in seinem neuen Roman „Bournville“, der einen Zeitraum von 75 Jahren umspannt, geht es um das Zusammenspiel von Politik und Privatleben – diesmal verdeutlicht durch die einzelnen Kapitel, welche die Lesenden von den Feiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu deren 75. Jahrestag führen. Royale Ereignisse Dazwischen hat Coe Wegmarken britischer Geschichte gesetzt wie die Krönung Elizabeths II., die Investitur von Charles als Prinz of Wales, die Hochzeit von Charles und Diana und die Beisetzung von Diana. Sie zeigen, wie eng verwoben das gesellschaftliche Leben in Großbritannien mit der Monarchie war und vielleicht auch noch ist. Deutsche und Engländer Ein einziges Kapitel fällt aus dem Rahmen: Das Finale der Fußballweltmeisterschaft England gegen (West)Deutschland. Aber im Kontext des Romans ist es ebenfalls wichtig, denn Jonathan Coe geht es auch um die deutsch-englischen Beziehungen und um das Verhältnis von Großbritannien zur Europäischen Gemeinschaft. Das klingt alles nach trockener Theorie, liest sich aber so süffig, dass man die 400 Seiten viel zu schnell gelesen hat. Denn dieser Autor versteht sein Handwerk. Corona und der Tod Der Roman beginnt mit den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie, und er endet mit den…
Der Titel ist eher irreführend, denn eigentlich beginnt Bernadette Olderdissen in ihrem Buch mit der tiefsten Nacht und nicht mit dem ewigen Sommer. Wie auch immer, die Reisejournalistin hat sich in Lappland und seine Bewohner verliebt. So sehr, dass sie den abgelegenen Norden zur zweiten Heimat erkoren hat. Eisbad und Blutpfannkuchen In ihrem Buch nimmt sie die Lesenden mit zu den indigenen Samen, zu Rentierzüchtern, Fischern und Jägern und lässt sie teilhaben an den Bräuchen und Festen. Um das alles intensiv mitzuerleben, hat sich Bernadette Olderdissen einiges zugemutet, hat sich durch tiefsten Schnee gequält und sogar in eine Eisbad gewagt. Sie hat Fische selbst ausgenommen und Blutpfannkuchen verspeist. Und dabei viel gelernt: „Mein Lapplandjahr beweist mir immer wieder, dass ich mich an fast alles gewöhne. An ein Haus ohne fließendes Wasser. An ewige Nacht und ewigen Tag. An Rentierblut und -organspeisen.“ Schnee und Nordlichter Die Hamburgerin ist wild entschlossen, nichts auszulassen. „Ich bin hier um zu lernen.“ Von Anfang an hat sie sich in den schwedischen Norden verliebt, in die mystische Dunkelheit, den märchenhaften Sternenhimmel, die Nordlichter, die Verzauberung durch den Schnee. Ihre Geschichte erzählt sie entlang der acht Jahreszeiten der Samen. Die eigenen Grenzen Da ist viel Platz für…
Schnell leben kann tödlich sein. Auch das ist eine Lektion des gleichnamigen Romans der Prix-Goncourt-Preisträgerin Brigitte Giraud. Vor 20 Jahren ist ihr Mann Claude mit dem Motorrad tödlich verunglückt, und ihr Leben geriet aus der Spur. Im Roman „Schnell leben“ versucht sie eine Rekonstruktion der Ereignisse, die zu dem Unfall führten. Wer ist schuld? Minutiös rekonstruiert Brigitte Giraud jenen Schicksalstag, an dem sie auf Dienstreise in Paris war und Claude die getunte Honda ihres Bruders ausgeliehen hatte. Wer ist schuld an diesem Unfall, fragt sich die Autorin 20 Jahre danach? Sie selbst, weil sie abwesend war? Ihr Bruder, weil das Unglücks-Motorrad seines war? Claude, weil er es ausgeliehen hatte? Unglückliche Verkettung Systematisch und ganz unsentimental arbeitet Brigitte Giraud in jedem Kapitel einen der Faktoren ab, die womöglich zu der Katastrophe führten. Was wäre wenn, fragt sie, und beginnt beim Kauf des Traumhauses für die Familie. Wenn sie das Haus nicht besichtigt hätte, wenn sie die Schlüssel nicht im Voraus bekommen hätte. Letztlich führt aus Sicht der Autorin eine Verkettung unglücklicher Umstände zu dem Unfall. Das perfekte Leben Nur eines ist sicher: „Das Haus steht im Zentrum dessen, was zu dem Unfall geführt hat.“ Warum musste sie das perfekte Leben der…
Mucks Maus und Missjö Katz sind sich am Anfang nicht grün. Wie auch? Schließlich war Mucks Maus zuerst da, als Freund von Rajo, dem Sohn von Papa und Baba. Die wussten allerdings nichts von dem kleinen Freund ihres Sohnes und deren gemeinsamen Sonntagen. Denn immer wenn Baba und Papa zusammen mit Tochter Minou einen Ausflug in die Stadt machten, um ins Kino und in Minous Lieblingsrestaurant Chez Madame zu gehen, machten es sich Rajo und Mucks Maus im Haus gemütlich. Idylle mit Laus Dann dachte Mucks Maus wehmütig an seine tote Frau Mathilde und glücklich an die Rettung durch Rajo. Und Rajo erfüllte seinem kleinen Freund jeden Wunsch. Eine Idylle, an der auch Stanis Laus teilhaben konnte, die uralte Vampirlaus. Sie wurde hinter dem linken Ohr des Grafen Dracula geboren und, nachdem sie den Vampir gebissen hatte, selbst zum Vampir. Nicht totzukriegen. Dafür superschlau durch jahrhundertelange Erfahrung. Davon profitiert letztlich Mucks Maus, als Minou den Feind ins Haus bringt: Missjö Katz! Die Katz im Haus Eifersüchtig beobachtet Mucks Maus, wie Missjö Katz verwöhnt wird, die besten Leckerbissen bekommt und von allen gehätschelt wird – auch von Rajo. Dabei hat die Maus doch die älteren Rechte! Wie es Mucks Maus schafft,…
Für Blandine Pluchet sind die Berge „die letzten unberührten Inseln in unseren modernen Gesellschaften“. In ihrem Buch lädt sie die Lesenden zu einer Wanderung ein, bei der es um nicht weniger als um die Entdeckung der Weltgesetze geht. Die studierte Physikerin sieht die Berge nicht nur dort, wo man sie erwartet. Sie entdeckt Spuren verschwundener Gipfel auch in ganz unspektakulären Landschaften. Und dann sind die Berge für sie auch ein Fenster zum Kosmos. Versuchslabor für Wetterphänomene Zur Höhenforschung – die Berge funktionieren oft als Frühwarnsystem für Klimaveränderungen – geht es ins Schneefernerhaus auf der Zugspitze, wo ähnliche klimatische Verhältnisse herrschen wie in der Arktis und die Luft klar ist, frei von Feuchtigkeit und Staub. Hier bekomme man einen anderen Blick auf die Welt, sagt einer der Forscher. Seine Besucherin lernt, dass das Gebirge ein „regelrechtes Versuchslabor für Wetterphänomene“ ist, wo sich sämtliche Wolkenformen beobachten lassen. Das Gebirge leidet Der größere Wasserdampfgehalt der Atmosphäre, erfährt Blandine Pluchet, führt nicht nur dazu, dass sich mehr Wolken bilden, er erhöht auch die Wahrscheinlichkeit extremer Wetterereignisse. Und das Abschmelzen der Gletscher hat nicht nur für die Bergwelt katastrophale Folgen. Denn die alpinen Gletscher sind auch ein europäisches Wasserreservoir und die Gebirge die Hüter des…
Da ist er wieder, der geniale Erzähler Rafik Schami, ein würdiger Erbe orientalischer Geschichtenerzähler. So ein Hakawati steht auch im Zentrum von Schamis neuem Roman „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“. Es ist wieder ein dickes Buch geworden aber weniger ein Roman als eine Geschichtensammlung. Ein bisschen 1001 Nacht Die Rahmenhandlung ist eher dürftig und erinnert ein bisschen an 1001 Nacht: Jasmin, die Tochter des Königs ist verliebt in einen Fischer und ahnt, dass die Beziehung unpassend ist. Weil sie keine Hoffnung sieht, erkrankt sie und kein Arzt weiß Rat. Da kommt Karam, der Hakawati, und bietet seine Hilfe an. Heilen will er die lebensmüde Prinzessin mit Hilfe von Geschichten. Nicht nur den eigenen, möglichst viele sollen erzählen. Zehn Nächte und ein gutes Ende Und so strömen die Untertanen in die große Halle, wo der König, die Prinzessin und ihre Zofe Nura den Geschichten lauschen. Zehn Nächte braucht Karam, um Jasmin ihre Lebenslust zurückzugeben – und sie mit ihrem Liebsten zu vereinen. Während dieser Zeit entspinnt sich auch eine Liebesgeschichte zwischen dem Witwer und der smarten Zofe Nura sowie zwischen Karams Tante Samia und dem Bettler Nader. Ein Ende wie es sich für ein Märchen gehört. Dramatische Vorgeschichte Die Vorgeschichte…
Die iranische Tragödie findet inzwischen wieder weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit statt. Das Mullah-Regime zementiert seine Macht – auf Kosten der Frauen und der Künstler. Vielen Kreativen bleibt nur die Flucht aus ihrer Heimat – wie Amir Gudarzi, inzwischen Österreicher. Der erfolgreiche Dramatiker hat mit „Das Ende ist nah“ seinen ersten Roman veröffentlicht, ein aufrüttelndes Zeitdokument. Denn Amir Gudarzi erlaubt einen „seltenen Einblick in das, was Menschen auf sich nehmen, wenn sie flüchten“, so die Schriftstellerin Julia Franck. Viele Gemeinsames Die Lesenden nehmen die Realität so wahr, wie der Erzähler sie erfahren hat. Dieser Ich-Erzähler hat viel gemeinsam mit Amir Gudarzi, der seit 2009 im Exil in Wien lebt. Auch er war in Österreich gestrandet „wie Treibgut“, hat den trostlosen Alltag der Asylsuchenden erlebt, den Alltagsrassismus im Land. Doch wie viel tatsächlich aus seinem Lebenslauf in den Roman eingeflossen ist, will Amir Gudarzi nicht verraten. Er sieht sein Buch als eine Art Archiv, in dem viele Stimmen verschmelzen – auch die eigene. Ein Roman in Stockwerken Als A berichtet er aus dem Iran, schildert die Gewalterfahrungen während der Proteste 2009, aber auch die Gewalt innerhalb der Familie und nutzt die Sprache als „Zeitmaschine“. Für die Lesenden sind diese Zeitsprünge…
Es ist schon ein ziemlich ambitioniertes Unterfangen, die ganze Welt in ein dickes Reisebuch packen zu wollen. Und natürlich fallen dann trotz der 620 Seiten die 800 Ideen und Reisetipps ziemlich kurz aus. Aber lonely planet macht‘s möglich und präsentiert zu kompakten Texten auch noch den CO²-Verbrauch der Reise. Da fühlen sich vielleicht einige ermuntert, auf Bus, Bahn oder Fähre umzusteigen oder gleich aufs Rad. Mit Fähre, Zug und Bus Wie wär‘s also damit, die Azoren mit Flieger und Fähre zu entdecken, mit dem Zug von Athen über Thessaloniki und Sofia nach Istanbul zu reisen oder entlang der Cote d‘Azur? Auch in Deutschland empfehlen die Autoren den Zug, zum Beispiel, um von Berlin nach Köln zu fahren und nebenher gleich noch Leipzig, Weimar, Frankfurt und Bonn mitzunehmen – wenn denn alles klappt. Das ist bei der Deutschen Bahn gar nicht so sicher. Anders als etwa in Japan, wo der Shinkansen zuverlässig unterwegs ist. Ob die Verbindungen bei der „epischen Zugreise“ von Bangkok nach Singapur ebenso zuverlässig sind, steht in den Sternen. Man erfährt zwar, wo man den Zug besteigt, wo man umsteigt und wie oft und wie lange die Züge fahren, aber um die Reise zu verwirklichen, muss man wohl…
So ein hinreißendes Bilderbuch: „Gestatten, Gaston!“ von Kelly Di Pucchio mit Illustrationen von Christian Robinson zeigt, wie ein kindgerechter Umgang mit Andersartigkeit aussehen kann. Gaston und seine Geschwister Der kleine Welpe Gaston hat Probleme damit, so brav und wohlerzogen zu agieren wie seine Geschwister. Dabei strengt er sich mächtig an, um seiner Mama zu gefallen. Aber anmutig laufen und nicht wild herumtollen, das fällt dem kleinen Kerl ganz schön schwer. Und bildhübsch auszusehen ist bei seiner Statur auch schwieriger als bei Fifi, Chouchou und Oh-Là-Là, den ranken Pudelkindern. Doch Mama Pudel mag all ihre Kinder, und Gaston liebt seine Geschwister. Antoinette und ihre Geschwister Dann kommt der Tag, der alles ändern sollte. Zufällig begegnet Familie Pudel einer Bulldoggen-Familie. Auf den ersten Blick ist klar, dass es wohl eine Verwechslung gab mit einem der Nachkommen. Denn Antoinette sieht ganz und gar nicht aus wie ihre Buldoggen-Geschwister Bruno, Rocky und Ricky. Kein Glück beim Tausch Nach langem Hin und Her tauschen Antoinette und Gaston die Familie. Aber das, was sie geprägt hat, können sie nicht vergessen: Antoinette „mochte ganz und gar nichts, was brav, bezaubernd oder bonbonrosa war“. Und Gaston „mochte ganz und gar nichts, was rüde, ruppig oder rostbraun war“. Kurz,…
Out there (dort draußen) wollen Julia und Lisa Hermes eine bessere Welt finden. Per Anhalter, mit dem Kanu, zu Fuß und mit dem Rad machen sie sich auf die Suche nach gelebten Utopien. Vier Jahre lang sind die Schwestern unterwegs – ohne Flugzeug. Sie besuchen Aussteiger-Communities, Widerstandsnester, Gemeinschaften, die alternative Lebensentwürfe testen. Nicht ganz ungefährlich Das ist nicht immer komfortabel und hin und wieder auch nicht ganz ungefährlich. Vor allem anfangs werden sie manchmal mit Misstrauen konfrontiert, auf dem Segelboot schlägt die Seekrankheit zu, und manche Utopie ist schneller gescheitert als sie verwirklicht werden konnte. Das liegt nicht immer an den Protagonisten, oft ist das Umfeld den Neuen und dem Neuen gegenüber feindlich gesinnt. Nicht so Julia und Lisa Hermes, die alles begierig aufsaugen, was nach besserer Welt klingt. Den Warnungen getrotzt Dabei lassen sich die Schwestern auch von gut gemeinten Warnungen nicht von ihren Plänen abbringen: „In Las Palmas wurden wir vor den Menschen auf Kap Verde gewarnt. Vom Auswärtigen Amt wurden wir vor Chalotteville gewarnt. In Tobago wurden wir vor den Kriminellen in Trinidad gewarnt. In Trinidad wurden wir vor der Gefahr in Venezuela gewarnt. Und in Venezuela wurde uns davon abgeraten, in Kolumbien zu trampen, weil es…