Annie Ernaux und ich

11. Februar 2023

Erst der Literaturnobelpreis hat mich auf Annie Ernaux aufmerksam gemacht. Ich muss gestehen, ich hatte bis dahin noch nichts von ihr gelesen. Dabei hatte ich Französisch studiert und blieb auch an französischer Literatur interessiert. Aber nun habe ich „Die Jahre“ der mittlerweile 83-jährigen Autorin gelesen. Was für ein Buch! Es katapultierte mich unmittelbar hinein in mein eigenes Erleben, das dem von Ernaux nicht unähnlich ist. So vieles teilen wir, auch wenn ihre Erinnerungen französisch gefärbt sind.

Ein Buch der Veränderungen

„Das Buch soll nicht das sein, was man üblicherweise unter Erinnerungsarbeit versteht, bei der es darum geht, ein Leben nachzuerzählen und sich zu erklären“, schreibt Annie Ernaux: „Sie schaut nur in sich hinein, um dort die Welt, das Gedächtnis und die Träume der Vergangenheit zu finden, um zu erfassen, wie sich Ideen, Glaubenssätze und Gefühle, wie sich die Menschen und das Subjekt verändert haben.“

Freizeitgesellschaft

Und wie sich alles seit der Nachkriegszeit verändert hat! Die rigiden Moralvorstellungen sind ebenso verschwunden wie die Kriegsruinen, hinweg gefegt vom Wirtschaftswunder und der 68-er-Revolte. Wir hatten das Gefühl, es ginge uns immer besser. „Man rief die Freizeitgesellschaft aus“, heißt es bei Annie Ernaux. Reisen wurde demokratisiert, die Frauen emanzipierten sich.

Überforderte Frauen

Doch mit der Familie und den Kindern verblichen die revolutionären Ideen der Studienzeit: „Der Konsum löste die Ideale von 1968 ab.“ Als arbeitende Mutter fühlte auch ich mich oft überfordert, fragte mich, was mit meinen Interessen war, während die Kinder die ihren trotzig einforderten. Wir gönnten uns Auszeiten auf Reisen und sahen den Kindern beim Heranwachsen zu. Es gab Zeiten, da wurde mir alles zuviel, war ich der Familie müde. Um mich dann doppelt anzustrengen, es allen recht zu machen. Anders als Annie Ernaux habe ich keine Scheidung hinter mir, auch keine Abtreibung. Aber was sie angetrieben hat, kann ich nachvollziehen.

Alt sind die anderen

Auch wir wollten unsere Zeit auskosten, bevor sie uns durch die Finger rinnen würde: „Unsere Eltern und überhaupt alle Menschen über fünfzig gehören der Vergangenheit an, was sich unter anderem in ihrem Bemühen äußerte, ‚die jungen Leute zu verstehen‘. Man hörte sich höflich ihre Meinungen und Ratschläge an, ohne etwas darauf zugeben. Man selbst würde nie alt werden.“

Verrinnende Zeit

Ja, so war das. Und welch ein Irrtum! Natürlich wurden auch wir alt. Schneller als gedacht wuchsen die Kinder zu Erwachsenen heran, die auf ihr eigenen Leben pochten. Wir wurden zu Randfiguren in der Familie. Und die Welt drehte sich immer weiter, der Jugoslawienkrieg warf unsere Vorstellung des „Nie wieder Krieg“ über den Haufen, 9/11 zerstörte die Fundamente unserer Sicherheit.

Rekonstruierte Vergangenheit

Wie würde Annie Ernaux die heutige Zeit beschreiben, in der noch mehr ins Wanken geraten ist? Und wie werden unsere Enkel auf die Zeit blicken, die wir gelebt haben? Die Literaturnobelpreisträgerin hat mit ihrem Buch diese Zeit rekonstruiert, hat ihre Erinnerungen gerettet so wie die Fotos aus ihrer Vergangenheit. Sie hat es geschafft, etwas von der Zeit zu bewahren, „in der man nie wieder sein wird“.

Die Auflösung

Aber sie weiß auch: „Auch wir werden eines Tages in den Erinnerungen unserer Kinder im Kreise der Enkel stehen, im Kreise von Menschen, die noch gar nicht geboren sind. Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte. Auch werden sich auf einen Schlag alle Wörter auflösen, mit denen man Dinge, Gesichter, Handlungen und Gefühle benannte, mit denen man Ordnung in die Welt gebracht hat, die das Herz höher schlagen und die Scheide feucht werden ließen: die Slogans, Graffiti an Häuser- und Klowänden, Gedichte und schmutzige Witze.“

Info  Annie Ernaux. Die Jahre,  Suhrkamp Taschenbuch, 256 S., 12 Euro

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