Andrea Sawatzki über ihre verlorene Kindheit

6. April 2022

Es gehört viel Mut dazu, sich als bekannte Schauspielerin vor der Öffentlichkeit so zu entblößen. Andrea Sawatzki wagt mit ihrem Buch „Brunnenstraße“ einen schmerzhaft ehrlichen Rückblick auf ihre problematische Kindheit mit einem dementen Vater.

Träume von einem neuen Leben

Der Chefredakteur Günther Sawatzki hat seine Geliebte und das gemeinsame Kind, Andrea, erst nach dem Tod seiner Frau zu sich genommen. Für die achtjährige Andrea anfangs die Erfüllung eines Traums: „Ich hätte meinen Vater gegen keinen anderen der Väter, die ich kannte, eintauschen mögen. Ich war stolz auf ihn.“ Auch die Mutter, die ihrer rebellischen Tochter viele Freiheiten gegönnt hatte, träumt von einem angepasst großbürgerlichen Familienleben an der Seite des verehrten Geliebten.

Ein Vater zum Hassen

Man zieht nach Bayern, Andrea bekommt zum ersten Mal ein eigenes Zimmer, die Mutter eine Wohnzimmergarnitur, der Vater eine Bibliothek. Doch die Träume von Mutter und Tochter zerplatzen wie eine Seifenblase, als die offensichtlich schon länger latente Alzheimer-Erkrankung Günther Sawatzkis offen ausbricht. Er war nie ein Vater zum Liebhaben, jetzt wird er ein Vater zum Hassen. „Je größer die Liebe, desto größer der Hass“, schreibt Andrea Sawatzki in ihrem Rückblick. „Bei mir war das der Fall. Ich hatte eine Liebe für meinen Vater in mir gehabt, größer als der Himmel und die Erde zusammen.“

 Ein Kind in Not

Nach einem Unfall und dem Freitod seiner Frau leidet der Journalist an einer Schreibblockade. Die Schulden häufen sich, und schließlich muss Andreas Mutter das Geld für den Lebensunterhalt verdienen. In ihrer Abwesenheit liegt es an der achtjährigen Andrea, den Vater zu versorgen und seine Erkrankung vor den Nachbarn zu verbergen. „Meine Mutter und ich wurden zu einer Art Schicksalsgemeinschaft: Keiner von uns war es richtig bewusst. Aber mit meinen elf Jahren war ich zur einzigen Vertrauten meiner Mutter geworden… Ich stellte mir nie die Frage, warum es keinen einzigen Erwachsenen in unserem Leben gab, der Näheres über unsere Not wusste oder erfahren sollte.“

Unerträgliche Belastung

Kein Wunder, dass dem Kind die Belastungen über den Kopf wachsen. Das Zusammenleben mit dem zunehmend verwirrten, auch aggressiven Vater wird immer unerträglicher, Andreas Hass auf den Zerstörer ihrer Kindheit immer größer. Das Mädchen verwildert, schwänzt die Schule, wird zur Außenseiterin: „Ich wurde zu einem Mädchen, das niemand liebhaben konnte, weil ich mich selbst am allerwenigsten mochte.“ Die 59-jährige Andrea Sawatzki erspart sich und den Lesenden keine Details, auch nicht die peinlichsten. So wird man zwischenzeitlich zum Voyeur wider Willen. Denn diese Geschichte einer verlorenen Kindheit geht buchstäblich unter die Haut.

Schreiben  als Schwerstarbeit

Man glaubt Andrea Sawatzki gern, dass das Schreiben für sie Schwerstarbeit war, wie sie am Anfang schreibt: „Ich habe es versucht. Immer wieder. Habe begonnen und abgebrochen. Und dann die Geschichte so erzählt, dass ich selbst eine Fremde sehen konnte, mit der ich nichts zu tun hatte. Ich verbarg mich, um diese Person, die mir Angst machte, von außen betrachten zu können.“

Und die Mutter?

In „Brunnenstraße“, dem „Roman mit autobiographischen Zügen, seziert sie die Gefühlswelt des Kindes, das sie war. Wobei sie dem Vater alle Schuld an der verlorenen Kindheit zuschiebt. Die Mutter, die das Opfer ihrer Tochter so hilflos wie billigend in Kauf nahm, bleibt ungeschoren. Hin und wieder gerät die Geschichte ins Stocken. Und wie bei einer erzählten Erinnerung werden Bruchstücke zusammengefügt.

Kunstgriff mit Rollentausch

Da gelingt es dem Mädchen Andrea zwischendurch etwa, den störrischen Vater mit einem Trick zur Raison zu bringen: Sie verwandelt sich in eine Krankenschwester. „Anfangs glaubte ich selbst nicht, dass es funktionieren würde. Immerhin war ich noch ein kleines Mädchen, ich reichte meinem Vater gerade mal bis zur Brust, und meine Stimme war noch sehr kindlich. Das Ergebnis aber verblüffte mich. Mein Vater ließ sich ohne Gegenwehr in sein Bett legen und war kurze Zeit später eingeschlafen.“ Womöglich, meint die erfolgreiche Schauspielerin rückblickend, wurde mit diesem „Kammerspiel“ schon der Keim für ihre spätere Karriere gelegt.

Der Tod als Erleichterung

Der längst herbei gewünschte Tod des Vaters ist für die Tochter dann nur noch Erleichterung, für die Tränen und die Trauer der Mutter hat sie kein Verständnis. Und doch gönnt sie dieser in vielen Teilen schockierenden Abrechnung mit dem Vater ein versöhnliches Ende – ein hellsichtiges Gedicht des Journalisten Günther Sawatzki:

„Ich bin nicht bestürzt,
wie du meinst,
ich stürze nur
ab.

Nicht alles,
was bodenlos ist,
endet in Gottes Schoß.“

Mit ihrem Buch, so sagt Andrea Sawatzki, wolle sie allen Mut machen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden oder befunden haben – und die unter dem Gefühl, versagt zu haben, leiden. „Ich habe das Kind in mir wiedergefunden,“ schreibt die Autorin im Vorwort: „Ich habe mir verziehen. Es zählte für mich nur eines: Weiterleben.“

Info Andrea Sawatzki: Brunnenstraße, Piper Verlag, München, 176 Seiten, 20 Euro,

Keine Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert