Rebecca Wait schreibt gern über Familien, auch in ihrem neuen Roman „Meine bessere Schwester“. Und wie heißt es so schön bei Tolstoi: „…jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“. Die Familie von Alice und Hanna ist besonders unglücklich. Das liegt schon am Erbe der Mutter Celia. Das eher hässliche und schüchterne Mädchen stand lange im Schatten ihrer schönen und klugen Schwester Katy, bis diese in die Schizophrenie abdriftete. Ihr Schicksal hängt fortan wie eine dunkle Wolke über der Familie. Die freudlose Celia krallt sich in ihrer Verzweiflung den Freund ihrer einzigen Freundin, Paul.
Dominante Mutter
Neben den Zwillingen Alice und Hanna haben den beiden noch den wenig auffälligen und eher gefühlsarmen Sohn Michael. Celia wird zu einer dominanten Mutter, die in der Furcht lebt, ihre Kinder könnten die Schizophrenie ihrer Schwester geerbt haben. Irgendwann entflieht Paul dem lieblosen Haushalt in die Arme einer jüngeren Frau.
Ungleiche Zwillinge
Trotz des häuslichen Elends steht die hübsche Hanna meist im Mittelpunkt einer großen Freundeschar. Aber der unscheinbaren Alice droht ein ähnliches Schicksal wie Celia, ein Leben ohne Freunde und ohne Liebe: Alice ohne Wunderland. Doch dann scheint sich bei Hanna Katys Erbe zu manifestieren. Die lebenslustige junge Frau verfällt in eine tiefe Depression. Mutter Celia sieht ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt und klammert sich verzweifelt an die andere Tochter, womit sie Alice total überfordert.
Bewunderte Schwester
„Meine bessere Schwester“ ist der deutsche Titel dieses Romans von Rebecca Wait, und man fragt sich zwischendurch, wer mit der besseren Schwester wohl gemeint ist. Denn in ihrer Kindheit macht Hanna ihrem Zwilling Alice das Leben schwer. Sie will nicht zusammen mit ihr gesehen werden, weigert sich, mit ihr zu spielen. Nur, als Alice als „Maulende Myrte“ von ihrer Klasse gemobbt wird, kommt Hanna ihr zu Hilfe. Für Alice ein Beweis mehr dafür, dass ihre Schwester etwas Besonderes ist, etwas Besseres als sie. Selbst Hannas Zusammenbruch und ihr Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik ändern an Alices Bewunderung für sie nichts.
Warmherzig und bitterböse
Rebecca Wait ist eine gute Beobachterin ihrer Mitmenschen. In ihrem Roman über eine dysfunktionale Familie seziert sie vor allem die Gefühlswelten von Mutter und Schwestern. Alice ist diejenige, die es immer allen recht machen will, auch dagegen rebelliert Hanna. Dass die Familie ausgerechnet zur Beerdigung von Celias Schwester Katy zusammenkommt, gibt den Ton vor. Eine Familiengeschichte zwischen Tragödie und Komödie, mal warmherzig, mal bitterböse.
Info Rebecca Wait. Meine bessere Schwester, Kein & Aber, 507 S., 26 Euro
Hineingelesen…
… in Hannas Psychose
Unmittelbar nach ihrem Klinikaufenthalt kam sie sich manchmal vor, als wäre sie in einem Gemälde von Salvador Dali aufgewacht, alles in ihrer Umgebung war verrutscht, geschmolzen oder verzerrt. Nichts schien mehr sicher, und alles Bekannte, worauf sie sich früher einmal verlassen konnte, hatte sich verändert oder war verschwunden. In den ersten Monaten ihrer Genesung sah sie immer noch überall Zeichen: Eine Krähe flog über sie hinweg, und kurz glaubte sie, dass sie ihr etwas mitteilen wolle – Krähen verkünden Unheil, bald passiert etwas Schlimmes – bis ihr wieder einfiel, dass ihr Gehirn nicht richtig funktionierte, und sie den Gedanken sorgsam und entschieden beiseiteschob. Das war jetzt also ihr Leben: sich immerzu selbst beobachten, jedem Gedanken misstrauen, sich ermahnen, dass Bäume keine Botschaften senden, dass die Vögel nicht ihretwegen in ganz bestimmten Formationen fliegen. Niemand verfolgt sie, niemand hört ihre Gedanken ab.
Selbst jetzt, drei Jahre nachdem sie ihr Studium fortsetzen durfte, scheint alles am seidenen Faden zu hängen. Als lebte sie ohne Haut. Aber das kann sie niemandem erklären, weil es niemand verstehen würde.
Info Rebecca Wait. Meine bessere Schwester, Kein & Aber, 507 S., 26 Euro
Keine Kommentare