Der Übersetzer ist bekannt: Der deutsche Schriftsteller Christoph Hein hat den Roman von Philipp Lyonel Russell „Am Ende ein Blick aufs Meer“ in einem kongenial heiteren Plauderton ins Deutsche übertragen. Erzählt wird das Leben des erfolgreichen britischen Autors P.G. Wodehouse (1881 bis 1975). Wodehouse, im Leben mit dem Spitznamen Plum (Pflaume) geschlagen, heißt bei Russell Frederick Bingo Mandeville und war wie sein Vorbild schon als Kind ein Possenreißer. Doch wer ist Philipp Lyonel Russell?
Mastermind mit Pseudonym
Ein Pseudonym heißt es beim Verlag. Der Mann, 1958 in England geboren, lehre in den USA und habe sich als „Mastermind der National Science Foundation einen Namen gemacht“. Weil das englische Original zur Hein-Übersetzung nicht vorliegt, hat sich Lothar Müller von der SZ auf Spurensuche gemacht und den Übersetzer befragt. Hein gab Auskunft: Den vom Autor „sehr gut honorierten“ Auftrag habe er von einer renommierten Wiener Kanzlei erhalten. Wie auch immer, der locker erzählte Roman über einen Mann, der „das Paradies der Kindheit nie verließ“ (Müller) gibt eine Ahnung davon, wie Menschen in Kriegszeiten Realität ausblendeten:
„Für die amerikanischen Bewohner der Hamptons war dieser Krieg auf dem fernen Kontinent so aufregend und bedeutungsvoll wie irgendein beliebiges Football-Turnier…Man verfolgte gelegentlich und unberührt die Ereignisse, kommentierte Siege und Niederlagen, doch die Marneschlacht, die Kämpfe um Tannenberg, die Offensive bei Verdun und die blutigen Gefechte an der Somme betrachteten sie wie Offensiven und Gegenoffensiven bei einem schlagkräftigen Ballspiel“.
Überleben in der Fantasiewelt
Erst mit dem Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg mussten sich auch die Amerikaner den kriegerischen Tatsachen stellen. Nicht so der Unterhaltungsautor Bingo, wie ihn Philipp Lyonell Russell schildert: „Sein Theatrum mundi folgte anderen Gesetzen, die Romanfiguren lachten und litten, liebten und starben ganz nach Bingos Vorstellungen, und er wusste dabei die Sehnsüchte das Verlangen seiner Leserschaft zu stillen.“ Der Roman schildert, wie dieses dicke, ewige Kind in seiner Fantasiewelt überlebt, in der die Lords und Ladys von merry old England auf ewig ihren Reigen tanzen. Nicht einmal die Internierung durch die Nazis kann Bingo etwas anhaben. So lange er dichten darf, ist sein Seelenfrieden gesichert.
Dass er sich von den Deutschen auch für ihre Kriegspropaganda missbrauchen lässt, ist dem naiven Künstler nicht bewusst. Bingo wird unschuldig schuldig. Aber obwohl er mit seinen heiteren Rundfunkansprachen mitten im Blitzkrieg seine Landsleute vor den Kopf gestoßen hat, kann er nach dem Krieg nahtlos da anknüpfen, wo er vor dem Krieg aufgehört hatte: „Er konnte ungestört schreiben, er vermisste nichts“.
Bis zum letzten Atemzug ein Schelm
Am Ende seines langen Lebens gibt es für den Dichter nichts zu klagen: Sein Gewissen sei rein, sagt er dem Pater, „aber er bereue all jene schönen Dinge, die er bisher versäumt habe und nun nicht mehr anstellen könne.“ Bis zum letzten Atemzug bleibt dieser Mann ein Schelm, der sich auf die heitere Seite des Lebens geschlagen hat.
Info: Philipp Lyonel Russell. Am Ende ein Blick aufs Meer, Insel, 222 S., 20 Euro
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