Wer lieber unter die Leute geht, sollte die Finger von diesem Roman von Joel Dicker lassen. Sein neues Buch „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ entwickelt auf 667 Seiten einen Sog, der dazu führt, dass man am liebsten gar nicht mehr aus dem Haus gehen möchte, um das Buch nicht aus der Hand legen zu müssen. Dabei ist der hochspannende Roman nur mehr halb so dick wie die Erstfassung. Aber eben immer noch dick genug.
Ein Mordfall vor 20 Jahren
Und natürlich ist der Titel gebenden Stephanie Mailer kein langes Leben beschieden. Die Journalistin, die in New York bei einem Literaturblatt gearbeitet hatte und nach ihrer Kündigung in der Lokalzeitung des malerischen Örtchens Orphea eine Anstellung fand, hat wohl bei den Recherchen für ein geplantes Buch zu tief geschürft. Es ging ihr um einen Mordfall von vor 20 Jahren, dem nicht nur die Familie des damaligen Bürgermeisters sondern auch eine Joggerin zum Opfer fielen.
Die mit dem Fall betrauten Polizisten Jesse Rosenbaum und Derek Scott scheinen bei der Aufklärung erfolgreich gewesen zu sein. Der des Mordes Verdächtige kommt bei der Flucht vor der Polizei ums Leben. Doch Stephanie Mailer findet Hinweise darauf, dass er unschuldig war. Das kostet sie das Leben und bringt auch andere in Lebensgefahr.
Der Täter ist immer einen Schritt voraus
Denn Jesse und Derek nehmen den Fall wieder auf, unterstützt von der klugen Polizistin Anna. Doch der Täter scheint dem Dreigestirn immer einen Schritt voraus zu sein. Joel Dicker legt mit offensichtlicher Wonne falsche Fährten, schlägt eine Volte nach der anderen, wechselt die Perspektiven wie die Zeiten und schickt die Leser auf ein Geocaching, bei dem sie auf immer neue Geschichten stoßen. Entstanden ist ein Pageturner, bei dem man nicht unbedingt auf die Logik achten darf.
Ein Mörder wider Willen
Er habe keineswegs einen Krimi schreiben wollen, sagte der in Genf geborene 35-jährige Bestseller-Autor, der für seinen Roman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ mit dem Grand Prix du Roman der Academie Francais und dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet wurde, in einem Interview. Die Handlung habe sich einfach so entwickelt. Und eine Vorliebe für Serienkiller habe er schon gar nicht, auch nicht für Psychos. Was ihn interessiere, sei vielmehr ein Mensch, der sich gezwungen sieht zu töten, „ein Mann, der versucht, seine Haut zu retten, und dafür die der anderen opfert. Ein Mörder wider Willen.“ Gleich zwei solcher Exemplare finden sich in dem Roman, der noch dazu von einem Stück erzählt, das keines ist und von einem Geständnis, das zu einem Roman wird.
Es ist also alles ganz schön kompliziert. Dass es trotzdem spannend bleibt, hat mit dem Geschick des Autors zu tun. Joel Dicker erweist sich wieder einmal als ein Meister der Illusion.
Info: Joel Dicker. Das Verschwinden der Stephanie Mailer, Piper, 667 S., 25,70 Euro
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