Thomas Manns „Zauberberg“, vor 100 Jahren erschienen, beschäftigt die Literaturszene bis heute. Auch Norman Ohler hat sich des Romans angenommen – und seinem Roman den ambitionierten Titel „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ gegeben. Schon etwas hoch gegriffen für diese autofiktionale Geschichte, in deren Mittelpunkt der Skiurlaub eines Vaters mit seiner Teenie-Tochter steht.
Skiurlaub und Steuer
Darum geht es: Ohler oder sein alter ego macht mit seiner 14-jährigen Tochter Suki Skiurlaub im Hotel Schatzalp oberhalb von Davos. Da, wo auch Thomas Manns „Zauberberg“ teilweise spielt. Begleitet werden Vater und Tochter von zwei Freundinnen Sukis und deren Müttern. Während die Mädchen beim feschen Skilehrer Hansi „Pizza-Fahren“ lernen, beschäftigt sich der leicht liebeskranke Vater mit dem Gedanken, wie er den teuren Skiurlaub von der Steuer absetzen könnte.
Der Ort und seine Geschichte
Er kifft ein bisschen, schaut in den Zauberberg und beschäftigt sich mit der Geschichte des Ortes. Dass diese Bergdörfer früher mal bettelarm waren, weiß man eigentlich. Aber Ohlers Erzähler muss dafür erst einmal in die Dokumentationsbibliothek, wo er auf die Urväter des Davoser Erfolgs stößt, den Arzt Alexander Spengler, der den Luftkurort Davos für Tuberkulosekranke erfunden hat und den Fabrikanten Willem Jan Holsboer, der dafür sorgte, dass der aufstrebende Kurort an das Schienennetz angeschlossen werden konnte und Eisenbahngeschichte schrieb.
Davos und die Welt
Außerdem weiß der schriftstellernde Vater inzwischen, dass auch Robert Louis Stevenson und Sir Arthur Conan Doyle schon im Landwassertal waren, dass Klabund in Davos starb und der Gauleiter Wilhelm Gustloff von dem jungen Juden David Frankfurter erschossen wurde. Auch dass Thomas Manns Zauberberg in Davos nicht gut aufgenommen wurde, hat er inzwischen gelesen. Und dass Heidegger Davos „furchtbar“ fand, „maßloser Kirsch in der Architektonik“. Furchtbar findet der Erzähler noch eher das World Economic Forum, das alljährlich die Superreichen mit den Superdenkern nach Davos bringt – vorgeblich, um die Welt zu retten. Die Welt sieht der Autor tatsächlich am Abgrund – schon seit Thomas Manns Zauberberg.
„Etwas aufgeblasen“
So weit so gut. Was allerdings nervt, ist die persönliche Geschichte, sind die Neusprech-Dialoge mit der Tochter, die der „Papsi“ beim „chillaxen“ ertappt, ist die an den Haaren herbeigezogene Parallelität zwischen der eigenen, unerfüllten Liebe und der des Hans Castorp im Zauberberg. Sein Roman sei etwas „aufgeblasen“ gestand Norman Ohler in einem Interview. Das stimmt allerdings. Hier wäre weniger tatsächlich mehr gewesen.
Hineingelesen…
… in die Problematik des Wintersports
Wer jetzt noch das Skifahren erlernt und Gefallen daran findet, wie Suki, Lana oder Lone, wird in kommenden Dekaden immer höher gelegene Plätze aufsuchen, immer mehr Geld dafür hinlegen, einen immer intensiveren Aufwand betreiben müssen – und nur dort fahren können, wo Kanonen stehen. Nicht mehr gleißende Berge werden die Teenager von heute morgen vorfinden, sondern sich auf künstlich hergestellten Abfahrtsbahnen tummeln, eingerahmt von grünbraunem Matsch, in dem Hunderte von Kilometern an Stromleitungen für Beleuchtung, Beschallung und Beschneiung vergraben liegen. Zwar wird das Skifahren auch in zwanzig Jahren technisch möglich sein, doch ob ihm noch diese anfängliche Lässigkeit eines Sir Arthur Conan Doyle innewohnt, die ungezwungene Eleganz, auf zwei Brettern einen Abhang hinabzugleiten und dabei Nähe zur Natur zu empfinden? Unter solchen Gesichtspunkten betrachtet, ist das Skifahren ein absurder Sport geworden: Indem wir ihn betreiben, dafür also anreisen, uns Ausrüstung, besorgen, in Hotels absteigen, Lifte benötigen, sowie die vermaledeiten Beschneiungsanlagen, schaffen wir die klimatischen Voraussetzungen für ihn ab. Wer mit dem Heli auf den Gletscher fliegt, um die Zeit dort oben zu genießen, zerstört ihn dadurch, und wenn es keine Gletscher mehr gibt, was in wenigen Jahrzehnten der Fall sein wird, kann das Wasser nicht mehr am Berg gespeichert werden: Es gibt dann nur noch Überschwemmung – oder Dürre.
Noch empfinden wir es als normal,nicht etwa als moralisches Vergehen, in die Skiferien nach Davos zu reisen, doch symbolisiert dieser Sport die Endmoderne auf besonders krasse Weise. Die letzten Reste Schnee schmelzen unter unserem ökologischen Fußabdruck dahin, und hinsichtlich das Krankheitszustandes der Welt hat sich seit Erscheinen des Zauberbergs nichts gebessert, im Gegenteil. Jener Schwanengesang, den Thomas Mann anstimmte, scheint mehr denn je zeitgemäß. Der Untergang vollzieht sich noch immer. Der Zauberberg beschrieb damals nicht den Endpunkt einer Ära, sondern warf vielmehr ein Schlaglicht auf einen Prozess, der nicht abgeschlossen ist, aber sich unerbittlich einem dramatischen Wendepunkt nähert. Und was kommt dann?
Info Norman Ohler. Der Zauberberg, die ganze Geschichte, Diogenes, 272 S., 25 Euro
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