Davor haben viele Eltern Angst: Dass sie ihre eigenen Kinder nicht mehr verstehen. Aber auch davor, dass die Welt für diese Kinder unerträglich wird. Amelie Fried kennt diese Ängste. In ihrem Roman „Der längste Sommer ihres Lebens“ schreibt sie auch über einen Mutter-Tochter-Konflikt im Zeichen des Klimawandels.
Die Karriere im Blick
Vordergründig geht es um die Karriere der Unternehmerin Claudia. Die Chefin eines traditionsreichen Autohauses in einer Kleinstadt engagiert sich auch politisch und will Bürgermeisterin werden. Um dafür genug Zeit zu haben, schlägt sie ihren Mann Martin als Geschäftsführer vor – gegen den Willen ihrer Mutter Marianne, die sich immer wieder in die Belange des Autohauses einmischt. Ihre Kinder, denkt Claudia, sind groß genug, um nicht mehr ihre volle Aufmerksamkeit zu benötigen.
Familiäre Konflikte
Der Sohn Julian ist mit seinen 15 Jahren zwar noch in der Pubertät und gerne aufsässig. Aber Tochter Anouk hat bisher alle Erwartungen er- wenn nicht sogar übererfüllt. Doch dann begehrt Anouk gegen den Familienalltag auf, schmeißt die Schule vor dem Abitur und zieht zu ihrem neuen Freund, dem charismatischen aber undurchsichtigen Joshua. Claudia versteht die Welt nicht mehr. Auch sie und Martin entfremden sich einander immer mehr. Das führt soweit, dass Martin zu einem Freund zieht, der in Scheidung lebt.
Die Lage spitzt sich zu
Weil Claudia trotz allem an ihrer Kandidatur festhält, bringt sich Mutter Marianne wieder vermehrt in der Firma ein. Scheinbar steht einer erfolgreichen Kandidatur Claudias nichts mehr im Weg. Aber dann wird Anouk bei einer Klima-Klebe-Aktion verhaftet. Die Schlagzeilen bringen Claudia in Erklärungsnot und sorgen dafür, dass der bisherige Bürgermeister Auftrieb bekommt.
Als Joshua und Anouk an einem Hungerstreik fürs Klima teilzunehmen, spitzt sich die Lage zu. Claudia fürchtet um das Leben ihrer Tochter. Im Hintergrund schwelt der Ehe-Konflikt mit Martin. Nur Marianne scheint glücklich. Sie hat einen Freund aus Jugendzeiten wieder getroffen – und plötzlich viel Verständnis für die Anliegen der rebellierenden Anouk.
Kommunalpolitik und Klima
Amelie Fried erzählt linear und schnörkellos von einer Mittelstandsfamilie und ihren Schwierigkeiten. Es geht um die Fallstricke der Kommunalpolitik ebenso wie um das Selbstverständnis eines Mittelstandsunternehmens, aber vor allem um die Probleme der jungen Generation mit dem Klimawandel. Dabei orientiert sich Fried an den Aktionen der „letzten Generation“, die sich erst kürzlich wieder auf dem Rollfeld des Frankfurter Flughafens festgeklebt hatte. Anouk aber auch ihr unengagierter Bruder Julian sind Kinder unserer Zeit. Aufgewachsen in Sicherheit und Wohlstand stehen sie vor einer ungewissen Zukunft.
Aktuelle Fragen
Das Buch hat Amelie Fried mit leichter Hand geschrieben und ebenso leicht ist es lesbar. Manche Stellen hätten allerdings von einer Straffung profitiert. Und die Charaktere wirken oft wie personifizierte Standpunkte, ihnen fehlt die Tiefe. Trotzdem lohnt sich die Lektüre – auch weil im Roman hochaktuelle Fragen verhandelt werden. Das bringt einen hin und wieder dazu, über die eigene Position nachzudenken.
Hineingelesen…
in Anouks Ängste
„Ich bin immer noch traurig“, sagte Anouk. „Sogar viel schlimmer als früher, als ich noch keine Ahnung hatte, warum ich eigentlich traurig war.“
Claudia fühlt einen Stich. „Und was macht dich jetzt traurig?“
„Schau dir doch die Welt an…“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf.
Claudia verstand nicht. „Was meinst du denn?“
„Ach, alles…“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Hast du die Überschwemmungen in Bangladesch gesehen? Die Menschen hatten doch sowieso kaum was, und jetzt haben sie auch noch ihre Wohnungen verloren. Und die Brände in Australien? Hunderttausende von Tieren sind schon gestorben!“
„Ja, das ist furchtbar“, sagte Claudia. „Das geht mir auch nah.
„Letztes Jahr das schlimmste Hochwasser bei uns, wo so viele Menschen gestorben sind,“ fuhr Anouk fort. „Und es wird immer schlimmer. Bald werden die Menschen sich ums Essen prügeln, weil die Ernten kaputtgehen, es wird riesige Flüchtlingsströme geben und Bürgerkriege…“ Sie brach ab und krümmt sich schluchzend zusammen. „Ich hab solche Angst, Mama!“
Claudia streichelte sie, wusste nicht, was sie sagen sollte.
Anouk richtete sich wieder auf und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
„Und weißt du, was mich wahnsinnig macht? Es ist alles erforscht, es ist völlig klar, woher das alles kommt, alle wissen es oder könnten es wissen, aber keinen interessiert‘s. Die Menschen machen einfach weiter als wär nichts…“
Wieder begann sie zu schluchzen.
Claudia beugte sich vor und nahm sie in die Arme. „Sch,sch“, machte sie. „Es wird schon nicht so schlimm kommen.“
Anouk riss sich los und funkelte sie wütend an.
„Das sagen alle! Aber das stimmt eben nicht, Wenn nicht ganz schnell was passiert, wird es so schlimm kommen, sogar noch schlimmer.“
Info Amelie Fried. Der längste Sommer ihres Lebens, Heyne, 431 S., 22 Euro
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