Manchmal hat man bei dem amerikanischen Autor T.C. Boyle das Gefühl, er könne Dinge vorhersagen. In seinem neuen Buch versammelt er unter dem Titel „I walk between the raindrops“ 13 Kurzgeschichten, die der TV-Kritiker Denis Scheck als „starke Geschichten für heftige Zeiten“ bezeichnet. Und gleich in der ersten – Titel gebenden – Geschichte nimmt er vorweg, was vor kurzem im Schweizer Graubünden die Menschen aufgeschreckt hat:
„Die riesigen Niederschlagsmengen ließen eine Mure abgehen, die alles, was auf ihrem Weg zum Meer lag, vor sich herschob: Häuser, Wagen, Bäume, Felsblöcke und dreiundzwanzig meiner Nachbarn, die in den darauffolgenden dunklen, kalten, knirschenden Stunden unter Erdmassen begraben und getötet wurden.“
Geschichten aus dem Alltag
Wie macht der Mann das? Ganz einfach, Boyle schöpft in dieser apokalyptischen Geschichte aus dem eigenen Erleben. Was der Klimawandel, eines seiner Herzensthemen, gerade bei uns anrichtet, hat Kalifornien schon erlebt. Und der Amerikaner war schon immer ein kritischer Beobachter der gegenwärtigen Entwicklungen. Daraus entstehen dann so köstlich-bösartige Alltagsgeschichten wie „Die Wohnung“, in der eine alte Frau, die einfach nicht sterben will, den Mann in den Wahnsinn treibt, der sie über den Tisch ziehen wollte. Oder die beängstigende Beschreibung einer Zugfahrt, in der eine allein reisende Frau einem Incel näher kommt, einem der Frauen verachtenden unfreiwilligen Junggesellen. Dagegen wirkt das übergriffige selbstfahrende Auto fast schon harmlos.
Verschiedene Blickwinkel
Boyle mag weder Gendern noch Body-Positivity oder euphemistische Umschreibungen. Auch der Vorwurf der „Aneignung“ schert ihn nicht. Seine Figuren dürfen auch fett und hässlich sein, sie sind männlich und weiblich, jung und alt. Er liebt es, aus verschiedenen Blickwinkeln zu schreiben wie in der abschreckenden Familiengeschichte „Die Form einer Träne“, wo er mal die Perspektive des Sohnes einnimmt, mal die der Mutter.
Menschliches, Allzumenschliches
Diese Geschichten erzählen von Beziehungsproblemen, von Liebe und Verrat, von einer Welt im Chaos und von der Zerbrechlichkeit des Lebens. Sie sind schräg und schockierend, ironisch und hintersinnig aber auch voller Verständnis für all die Facetten menschlichen Wahnsinns. Der manifestiert sich im großartig beschriebenen Drogenrausch eines französischen Dorfes (Die Hyäne), ausgelöst durch mit Mutterkorn verunreinigtes Mehl:
„Die Welt mochte fremd und unergründlich geworden sein, und sein Bauch schmerzte und auch sein Kopf, aber zu Hause war zu Hause, und dort wäre er sicher, weil er die Tür gegen die Hyäne verriegeln und sich in eine Decke wickeln und ein Feuer machen könnte… Das einzige Problem war, dass er nichts wiedererkannte. Die Gebäude türmten sich auf und schrumpften wieder. Alle schienen zu laufen, und deswegen rannte er auch, sein Herz schlug, als wollte es sich aus seiner Brust befreien, und warum war keiner von ihnen der, der er sein sollte? Warum trugen sie alle Masken? Warum waren ihre Körper aus Resten zusammengeschustert – Resten, Resten von Menschen? Er rannte, bis er erschöpft war, und immer noch hörte er nicht auf zu zittern. Plötzlich war es dunkel, und die Lichter in den Häusern und Geschäften waren wilde, gelbe Augen, die sich in Ihn bohrten, die Augen von Hyänben, ganze Rudel von geifernden, grinsenden Hyänen.“
Corona auf der Kreuzfahrt
Natürlich gehört zu diesen „Zeitgeschichten“ auch eine Corona-Erzählung. Bei Boyle, dem Meister der kurzen Form, wird die Geschichte eines wegen eines Covid-Ausbruchs auf den Meeren umherirrenden Kreuzfahrtschiffs zu einem mit einer Portion Schadenfreude begleiteten Pageturner. Ganz ohne moralischen Zeigefinger schafft es dieser Autor, den Lesenden ihre eigene Unzulänglichkeit vor Augen zu führen.
Info T.C. Boyle. I walk between the raindrops, aus dem Engelischen von Dirk van Gunsteren und Anette Grube, Hanser, 270 S., 25 Euro
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