Chris Whitaker, der ehemalige Finanztrader, hat mit seinem Debüt „Von hier bis zum Anfang“ international Aufsehen erregt. Auch der neue Roman „In den Farben des Dunkels“ hat das Zeug zum Bestseller. Joseph, den alle nur Patch nennen, ist mit nur einem Auge auf die Welt gekommen. Das Defizit machte der kleine Junge zu seinem Markenzeichen – mit einer Augenklappe wird er zum „Pirat“. Was ihn nicht vor Mobbing bewahrt. Doch seine beste Freundin, Saint, ist immer für ihn da – wie er für sie:
„Am nächsten Tage klaute Chuck Bradley ihr die Steinschleuder aus der Tasche, zerbrach sie in zwei Hälften und stieß Saint zu Boden. Patch baute sich vor dem größeren Jungen auf und schlug mit seiner kleinen geballten Faus zu. Immer schlug er als Erster zu. Chucks Freunde stürzten sich auf ihn und prügelten immer noch auf ihn ein, als der Kampf schon längst entschieden war. „Das war dumm,“ sagte Saint, half ihm auf die Beine und tupfte ihm das Blut von der Lippe. „Du bist alles, was ich habe“, sagte er. Und sie dachte, mehr als mich wirst du nicht brauchen.“
Licht in der Dunkelheit
Recht hat sie, denn als Patch als 13-Jähriger entführt wird, ist sie es, die ihn findet, nachdem die Suche eigentlich schon aufgegeben wurde. Doch Patch ist nicht nur traumatisiert, er hat auch eine Mission. In der Dunkelheit seines Gefängnisses stand ihm ein Mädchen zur Seite. Grace hält den verängstigten Jungen mit ihren Geschichten und Essensvorräten am Leben, bringt buchstäblich Licht in die Dunkelheit.
Patchs Mission
Wieder in Freiheit, macht es sich Patch zur Aufgabe, Grace zu finden. Was er findet, sind aber vor allem vermisste Mädchen. Fast obsessiv verfolgt Patch ihre Spuren und malt ihre Gesichter nach der Beschreibung von Eltern und Freunden. Sein erstes Bild zeigt Grace, so, wie er sich das Mädchen vorstellt. Und wieder wird Grace für den jungen Mann wichtig. Denn Sammy, der Lebemann und Sammler, erkennt den Künstler hinter dem Gemälde.
Die Freundin im Hintergrund
Es könnte also alles auf ein glückliches Ende hinauslaufen. Denn auch die schöne Misty, an deren Stelle Patch entführt wurde, findet Gefallen an dem zum Mann herangereiften Mitschüler. Doch Patch kann Grace nicht vergessen. Auf der Suche nach ihr und den anderen entführten Mädchen riskiert er immer wieder sein Lebensglück. Er überfällt Banken, um das Geld für die Familien zu spenden, verbringt Jahre im Gefängnis und später Jahre auf der Flucht. Und Saint ist immer für ihn da – als Polizistin.
Eine komplexe Geschichte
Chris Whitaker hat 700 Seiten Platz, um eine komplexe Geschichte zu erzählen, die viel mehr ist als ein Kriminalfall – aber das auch. In erster Linie geht es um eine außergewöhnliche Freundschaft, die alles überdauert: Patchs schwierige Verbindung mit Misty ebenso wie Saints unglückliche Ehe. Bei allem, was der „Pirat“ riskiert, kann er auf Saint zählen. Sie rettet ihrem Kinderfreund nicht nur einmal das Leben.
Das Phantom Grace
Es ist das Phantom Grace, das diese innige Verbindung gefährdet. Als er ihr schon ganz nahe ist, erzählt er einer alten Frau von Grace als seiner Frau:
„Sie ist alles , was ich brauche.“ Und dann sagt er noch: „Ich weiß übrigens auch, dass Piraten früher Augenklappen getragen haben, um sich bei Überfällen besser auf die Lichtverhältnisse einstellen zu können. Auf Hell und Dunkel über und unter Deck.“ Und die alte Frau antwortet: „Sie sind ja jetzt im Licht, da müssen Sie aus der Dunkelheit kommen.“
Bigotte Gesellschaft
Es wird noch viele Jahre und gut 300 Seiten dauern, bis Patch tatsächlich ins Licht kommt. Und ohne die Hilfe seiner Freundin Saint würde er es wohl nie aus der Dunkelheit schaffen. Whitaker nutzt die Zeit, um von Saints ungeborenem Kind zu erzählen und von Patchs Tochter. Aber auch von den vielen vermissten Mädchen und von einer bigotten Gesellschaft und ihren Abgründen. Man liest sich schnell ein in diese fesselnde Geschichte, fühlt und fiebert mit den Protagonisten. Chris Whitaker, selbst Vater von drei Kindern, gelingt es, den Lesenden zu vermitteln, wie sich Kindheits-Erlebnisse auf das Erwachsenen-Leben auswirken – und was Freundschaft vermag.
Info. Chris Whitaker. In den Farben des Dunkels, ins Deutsche übertragen von Conny Lösch, Piper, 592 S., 24 Euro
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