Ein Sommerabend, das klingt harmlos, ja einladend. Doch in Cécile Tlilis gleichnamigem Romanerstling werden an diesem Sommerabend ganze Lebensentwürfe zertrümmert. Die Pariserin inszeniert ein fesselndes Kammerspiel mit vier Personen, zwei Paaren.
Gegensätzliche Paare
Die Männer, Etienne, der attraktive Gastgeber, und der eher unscheinbare Rémi, kennen sich aus Studienzeiten. Der eine kommt aus einer angesehenen Familie und ist wie sein Vater Anwalt. Der andere hat sich das Studium hart verdienen müssen und ist Lehrer geworden. Doch für Rémi hat sich mit der Beziehung zu der gebürtigen Tunesierin Johar alles geändert. Denn die ehrgeizige Johar hat sich zäh nach oben gekämpft – auch gesellschaftlich. Auf die junge, schüchterne Claudia, die neueste Eroberung des Frauenlieblings Etienne, wirkt die Karrierefrau einschüchternd. Umso mehr bemüht sie sich, die Einladung zu einem Erfolg zu machen.
Unterschiedliche Aussichten
Doch das schafft nicht einmal ihre gute Küche. Von Anfang an liegt eine fiebrige Spannung in der Luft: Johar steht vor einem neuen Karrieresprung, und Claudia hat erfahren, dass sie schwanger ist. Gegensätzlicher könnten die Aussichten für die beiden Frauen nicht sein. Das wird nicht so bleiben, auch wenn Johar der Versuchung nicht widerstehen kann, den anderen ihren möglichen Aufstieg an die Spitze des Konzerns zu verraten.
Egoistische Pläne
Da ist sie kurz wieder da, wo sie sich am liebsten sieht: im Mittelpunkt. Man stößt mit Champagner an, man gratuliert. Claudias sorgfältig arrangiertes Menü wird kaum zur Kenntnis genommen. Nicht einmal Etienne kümmert Claudias Enttäuschung. Und dann spürt die junge Frau einen stechenden Schmerz. Dass sie ihr Baby verliert, fällt den Männern nicht auf. Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Etienne will Johar für seinen eigenen Aufstieg instrumentalisieren. Rémi fühlt sich endlich frei für eine neue Liebe, wenn Johar erreicht hat, was sie wollte.
Die Masken fallen
Es geht um Egoismus und Entfremdung, um die Unfähigkeit zu lieben, um Aufstieg, Karriere und gesellschaftliche Maskerade. Sie zerfällt an diesem Abend wie die Zucchinblüten: „Das schöne leuchtende Orange der Blüten, als sie aus dem Ofen kamen, hat sich verdunkelt, die Blattspitzen schrumpeln über den prallen, weißlich gefüllten Bäuchen zusammen.“
Ungewöhnliche Allianz
Eine großzügige Wohnung in Paris, das Wohnzimmer, die Küche, ein Balkon, das Bad – mehr braucht Cécile Tlili nicht für diesen dramatischen Abend, der in einer ungewöhnlichen Allianz endet. Es sind die Frauen, die diese Entwicklung bestimmen. Die starke Johar, die schließlich auch eine Schwäche zulassen kann, und die scheue Claudia, die in sich eine ungewohnte Stärke entdeckt. Diesen Sommerabend werden die Leserinnen und Leser nicht so schnell vergessen.
Hineingelesen…
… Johars Erinnerung
Johar denkt daran zurück, mit welcher Schamlossigkeit ihre ersten Kunden sie beäugten, als der Schrecken darüber, dass hinter diesem Vornamen kein Mann, sondern eine Frau steckte, verflogen war. Wie sie versuchten, an ihrem kaffeebraunen Teint, an ihren zu steifen und darum vermutlich nicht natürlichen Haaren und manchmal in den Tiefen ihres Dekolletés abzulesen, wie umfassend ihre Softwarekenntnisse waren und wie unerbittlich Johar aus dem Entwicklerteam, das sie leitete, noch den letzten Schweißtropfen herauspressen könnte. Jahr um Jahr war es ihr gelungen, den inquisitorischen Blicken standzuhalten und nacheinander alle Unebenheiten zu glätten, über die sie hätten stolpern können – die nahezu nicht wahrnehmbaren Reste eines Akzents, den sie sich von ihrer Mutter abgehört hatte, die kleinen sprachlichen Unsicherheiten, die ihr zu Beginn unterliefen. Es war ihr gelungen, sich innerhalb des Unternehmens durch ihre Arbeitskraft, ihren Kampfgeist bis hin zur Verbissenheit von den anderen abzuheben. Wenn sie an all die Nächte zurückdenkt, in denen sie Verträge verbessert, Codes neu geschrieben, sich mit zugeschnürtem Magen vorbereitet hat auf Meetings mit wütenden Kunden oder Mitarbeitern, die man entlassen musste, dann ertappt sich Joahr bei dem Wunsch, in den Augen ihrer Kollegen Unterwerfung zu erkennen. Sie stellt sich vor, wie all diese Männer – immer älter, immer weißer, immer männlicher als sie – in einer Reihe vor ihr stehen, in ihren tadellosen Anzügen, mit ihren guten Manieren, ihren traurig geradlinigen Lebensläufen, und träumt vom Triumph des Migrantenmädchens über alle, denen die Karriere schon in die Wiege gelegt wurde.
Info Cécile Tlili. Ein Sommerabend. Kein & Aber, 192 S., 21 Euro
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