Aus der Zeit gefallen

15. März 2024

Susanne Matthiessen gehört der Boomer-Generation an, jener Generation, die in den 1960er Jahren geboren wurde. So viele Kinder hatte es nie zuvor in Deutschland gegeben – jetzt sind sie im Ruhestand oder kurz davor. In ihrem Roman „Lass uns noch mal los“ geht die Schriftstellerin dem Schicksal der rebellischen Boomer-Frauen auf den Grund.  Es waren Frauen, die mehr wollten als ihre Mütter. Die wollten, was ihnen zusteht, „ihre Hälfte der Welt“.

 Aufbruchsstimmung in Kreuzberg

In Kreuzberg versucht eine neue Frauenbewegung in besetzten Häusern ihre Träume zu verwirklichen. Die Ich-Erzählerin Susanne, die eigentlich eine Reportage über eine Rassehunde-Ausstellung schreiben sollte, landet während  blutiger Wirren in einer Frauen-Kommune. Es herrscht herrliche Aufbruchstimmung. „Ich möchte eigentlich allen nochmal in Erinnerung rufen, wer wir waren. Was wir waren. Wie wir waren. Am Ende haben wir alles noch in uns. Und ich denk mir, das was wir mal wollten, muss doch irgendwie möglich sein, jetzt mal zu vollenden“, sagt Susanne Matthiessen über ihren Roman.

Eine Festung gegen das Patriarchat

Und damals sah ja auch alles gut aus: Gemeinsam verwirklichen die Frauen ein eigenes Hausprojekt, BURG genannt, eine Festung gegen die Zwänge des Patriarchats. Männer müssen draußen bleiben. 40 Jahre später ist die Anfangs-Euphorie längst Geschichte, nicht einmal das Männer-Verbot funktioniert. Die eine bringt ihren dementen und übergriffigen Vater ins Haus, eine andere einen verpeilten Künstler. Und als Susanne ihr Appartement vermietet, zieht gegen ihren Willen nicht nur die Frau ein, sondern auch deren renitenter Mann.

Verlorene Hoffnungen

Die Frauen im Haus sind älter geworden, haben viele Illusionen verloren und oft auch die soziale Sicherheit. Kaum etwas von dem, was sie sich erhofft haben, hat sich erfüllt. Auch Susanne verliert den Boden unter den Füßen, als sie – aus Altersgründen – gekündigt wird. Um wenigstens über die Miete ihr Leben zu finanzieren zieht sie in den Keller. Andere folgen nach, denn in Berlin sind günstige Wohnungen Mangelware.

Ein Haufen alter Frauen

Die Welt hat sich verändert. Und die Bewohnerinnen der BURG, früher jung und dynamisch, sind nichts mehr als ein Haufen alter Frauen, die gegen Altersdiskriminierung und kleine Renten kämpfen. Sie sind aus der Zeit gefallen.  Das Buch beginnt mitreißend mit viel Witz und Selbst-Ironie. Susanne Matthiessen lässt sogar Sarah Wagenknecht auftreten und packt interessante Fakten über das Berlin von heute in ihren – von persönlichen Erlebnissen – geprägten Roman.

Sprüche aus dem Poesie-Album

Leider kommt der Autorin aber im letzten Drittel der erzählerische Elan etwas abhanden. Die Spannung leidet unter einem Hang zur Aufklärung im „Emma“-Stil. Da helfen selbst ein rätselhafter Todesfall und die slapstickartige Entsorgung der Leiche nicht. Trotzdem ist dieser mit Sprüchen aus dem Poesie-Album garnierte Roman lesens- und nachdenkenswert – auch dank des hintergründigen Humors der Autorin und der schrägen Frauen-Typen, die sie zeichnet. Vor allem aber, weil er die Gefahr aufzeigt, dass vieles, was die Boomer-Frauen erkämpft haben, wieder auf dem Spiel steht.

Hineingelesen…

… in die Berliner Realität

„Stimmt es wirklich, dass man bei euch mit Fahrrändern jetzt Autostellplätze blockieren darf?“ So was fragt Dorotheas Schwester am Telefon. Das sind die Themen, die sie interessieren. Vollkommen klar, was sie denkt: Berlin hat endgültig den Verstand verloren. Von der neuen Gendertoilette am Kottbusser Tor mitten im Schlamm, diesen ‚Missoir‘ hat sie glücklicherweise noch nichts gehört oder gelesen. Dabei war es schon überall im Fernsehen. Mit Dorothea ist abgesprochen, dass wir ihr nichts davon erzählen.
Wir wissen selbst nicht, wie man so was erklären soll, Kreuzberg wieder ganz weit vorne mit einer öffentlichen Öko-Toilette, die nicht mehr zwischen Männern und Frauen unterscheidet, als Fanal. Sie soll die Visitenkarte für eine moderne, diverse Gesellschaft sein. Ein zeitgemäßer Lokus, äußert prominent auf einer Verkehrsinsel platziert. Fünf Jahre Planung, fünfzigtausend Euro Kosten. Und von Anfang an unbenutzbar. Immer extrem verdreckt, man riecht sie schon vom Weitem. Touristen halten sich die Nase zu und machen Selfies vor und mit dem ‚Missoir‘, der Toilette für alle Geschlechter. Kreuzbergs neueste Attraktion.
Die ganze Welt schaut auf diese Stadt und besonders auf diese Ecke hier, wo Ost und West zusammenstoßen. Wir haben dieses Haus direkt auf dem Reißverschluss zwischen Russland und Amerika gebaut. Der könnte jederzeit wieder aufgerissen werden. Lange Jahre dachten wir, das Kapitel sei abgeschlossen, aber nun sind da doch einige Fragezeichen, ob wir hier – so weit im Osten – noch immer sicher sind angesichts der neuen Bedrohung aus Russland. Hier stand die Mauer. Hier stand der Klassenfeind. Heute patrouillieren hier die Busse auf Stadtrundfahrt. Am Boden verläuft eine Linie aus Pflastersteinen, damit niemand vergisst, wo genau diese Mauer, diese besondere Grenze war.
Touristen aus der ganzen Welt kommen Tag und Nacht vorbei, in der Hand das Handy mit Navigationssystem und beäugen unsere Haus. ‚The Berlin Wall – See it here. Leben mit dem Todesstreifen‘. In einem Kuppelzelt mit dramatischen Licht- und Endzeitstimmung kann jeder am Checkpoint Charlie in 3-D erleben, wie es aussaht, als hier noch keine Häuser waren, sondern Wachttürme und Stacheldraht. Dann pilgern sie anschließend an diesen historischen Ort, den sie eben noch als bedrohliche Kulisse im Kuppelzelt gesehen haben. Sie kommen genau an diese Ecke Sebastian-Luckauer Straße. Und das größte Glück scheint anschließend für sie zu sein, einmal gegen unsere Hausnummer zu pinkeln. Ich rede von Männern. Nicht von Hunden.
Ich habe keine Ahnung, warum das hier ständig passiert. Ist das ein Kult? Ein Ding aus dem Internet,von dem wir noch nichts mitbekommen haben? Eine Challenge bei TikTok oder wie das heißt? Oder ist es tatsächlich die neue rechtsgerichtete Bürgerlichkeit, die hier vorbeikommt, um den Feminismus anzupinklen? Vielleicht ist das aber auch so ein Kreuzberg-Ding, einfach laufen lassen, weil man in diesem Bezirk angeblich alles darf. Das steht doch in jedem Reiseführer. Sie kommen zu zweit, zu dritt, zu viert. Männer richten ihren Strahl bewusst auf diese Gebäude, das in Berlin eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, weil es nur von Frauen bewohnt ist. Sie pinkeln uns an. Das kann kein Zufall sein.

Info Susanne Matthiessen. Lass uns noch mal los, Ullstein, 330 S., 23,99 Euro

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