Die Inderin Anuradha Roy ist nicht nur mehrfach ausgezeichnete Buchautorin, sondern auch begeisterte Töpferin. Ihr Roman „Ton für die Götter“ profitiert von dieser Passion für das Schöpferische. Denn sowohl Elango im indischen Kummarapet als auch Sara im englischen London brauchen das Töpfern, um sich in ihrem Leben zurecht zu finden.
Der Traum von der Schöpfung
Der Hindu Elango verdient sein karges Geld mit dem Töpfern von Alltagsgeschirr. Aber eines Nachts träumt er davon, ein flammendes Pferd zu erschaffen – für die Muslimin Zohra, die er schon lange liebt. Und seine Schülerin, die kleine Sara, darf ihm dabei helfen. Auslöser von Elangos neuer Schaffenskraft ist aber nicht nur der Traum, sondern auch der Hund Chinna. Seit der kleine Vierbeiner ihm zugelaufen ist, hat sich Elangos Leben verändert. Chinna, so glaubt er, ist sein Glücksbringer.
Falsche Hoffnungen
Lange sieht alles gut aus, das Pferd aus Ton wächst in einem geheimen Versteck, Zorah erwidert Elangos Liebe, und ihr Großvater, ein blinder Kalligraph, willigt ein, das Geschöpf mit Schriftzügen zu verzieren. Elango weiß nicht, dass Chinna bei einem Überfall auf seine früheren Besitzer entkommen ist und von ihnen verzweifelt gesucht wird. Nur Saras Mutter, eine Journalistin, kennt den Hintergrund. Ist es schlechtes Karma, das zur Katastrophe führt? Neid oder religiöser Wahn?
Die Wucht der Zerstörung
Als das Pferd vollendet ist, bewundern die Dörfler zunächst Elangos Schöpfung. Doch es dauert nicht lang, bis die Nachbarin Akka, schon lange mit dem Töpfer verfeindet und für ihre Prophezeiungen berüchtigt, die Urdu-Sprüche entdeckt und das Pferd als Teufelswerk brandmarkt. Der entfesselte Mob zerstört das Pferd, Elango entkommt nur knapp und mit Hilfe von Saras Eltern.
Die Vertrautheit der Heimat
Das ist der eine Erzählstrang, den Anuradha Roy in der dritten Person erzählt. Im zweiten geht es um Sara und ihre Erfahrungen in der Fremde, um Heimweh, Rassismus und Freundschaft. Nur wenn sie töpfert ist Sara ganz bei sich. Und als sie Elango in London trifft, wo er – inzwischen ein anerkannter Künstler – eine Ausstellung eröffnet, spürt sie die enge Verbindung zu dem Mann aus ihrer Heimat und beschließt, Elangos Geschichte ein Buch zu widmen. „Hier in der Fremde sind wir uns als zwei Menschen begegnet, die sich flüchtig über einen Fluss aus Jahren hinweg zu Gesicht bekommen, und wenn er mir von seiner Vergangenheit erzählt, macht er eine Geschichte daraus, die so weit hergeholt klingt wie ein Mythos und so vertraut wie ein Liebesbrief.“
Die Geschichte des Hundes
Ins Buch aufgenommen hat Anuradha Roy neben Saras Tagebuchaufzeichnungen noch einen dritten Erzählstrang – Briefe von Chinnas ehemaligen Besitzern an Saras Mutter. Das Drama um das Pferd aus Ton hat auch das Leben des Hundes verändert, hat getrennt, was zusammengehört hatte. Am Ende wandert der alte Hund durch den Ort, der ihm zur Heimat geworden ist. Daran kann auch seine ehemalige Besitzerin nichts ändern. Chinna hat schon lange mit seinem früheren Leben abgeschlossen.
Offenes Ende
Was aber ist mit Elango, mit Sara? Da verweigert Anuradha Roy einen konkreten Schluss. Vielleicht um die Lesenden anzuregen, sich erneut in die Ereignisse zu vertiefen, welche die Welt von zwei Menschen und einem Hund für immer erschüttert haben.
Hineingelesen…
… in den Rausch der Zerstörung
Sie (Akka) erreichte die Priester, die vor dem Pferd standen und sich gegenseitig erklärten, dass es die Neubelebung einer untergegangenen Tradition sei. Sie besprachen, wie man es am besten in den Tempel bringen könnte. Akke begann, um das Pferd herumzugehen, als umkreise sie ein Heiligenbild, und blieb zwischendurch stehen, um es genauer zu betrachten. Schließlich hielt sie vor Brust und Flanke des Pferdes inne.
„Was steht da geschrieben?“ fragte sie den dünnen Priester nach ihrer langen Begutachtung.
Die Priester tauschten murmelnd ein paar Worte. Es stimmte, sie hatten sich das Muster der Linien angesehen, aber es schien tatsächlich eine Schrift zu sein. Jemand aus der Menge kam ihnen zu Hilfe. „Ich habe gehört, der alte Usman hat es geschrieben. Obwohl er blind ist. Was für ein Wunder.“
„Dann ist es Urdu“, sagte der kahlköpfige Priester.
„Die Sprache der Dichter!“ rief jemand von weiter hinten.
„Die Sprache der Mullahs“, sagte der dünne Priester.
Wie konnte es sein, dass ein heiliges Tempelpferd so verunstaltet worden war? Akka stellt die Frage einmal, dann noch einmal und machte schließlich einen Gesang daraus. Unversehens sank sie mitten auf der Lichtung zu Boden, achtete nicht auf den Matsch, der ihren Sari durchnässte, schlug sich gegen den Kopf und riss sich an den Haaren, bis sie wild zerwühlt waren. Der rote Kumkum-Kreis auf ihrer Stirn war verwischt, sodass er wie ein Wundmal aussah. Sie saß auf der Erde, die Schenkel unter dem Sari weit gespreizt, und als sie zum Himmel aufsah, war ihr Blick leer, bis auf den Bruchteil einer Sekunde, als sie ihn auf mich richtete, aber schon wanderte er weiter. Ihr Mund öffnete sich zu einer riesigen schwarzen Höhle, die schrie: „Tötet den Töpfer. Zerschlagt das Pferd. Ein jeder schlage darauf ein – Gott wird mit euch sein, Gott wird mit euch sein!“
Ein paar Augenblick lang war alles reglos still, nur die Schildkröte kroch voran, dann rief Akka die Worte ein weiteres Mal, lauter. Und das genügt, um die Leute zu einem Mob werden zu lassen, sie schrien, schoben, skandierten Akkas Worte, rempelten, fielen übereinander.
Info Anuradha Roy. Ton für die Götter, ins Deutsche übertragen von Werner Löcehr-Lawrence, Luchterhand, 283 S., 22 Euro
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