Lisa Weeda hat ihre Wurzeln in der Ukraine, sie kennt die Traditionen. Auch davon handelt ihr Roman. Die Lebenslinien der Familienmitglieder sind auf ein Leinentuch gestickt, rot für das Leben, schwarz für den Tod. Dieses Tuch soll Lisa nach dem Willen ihrer 98-jährigen Großmutter Aleksandra zum Grab von Kolja in der Ukraine bringen. Auch durch den Roman „Aleksandra“ zieht sich ein roter Faden – es ist die Geschichte einer von den Donkosaken abstammenden Familie im Grenzland der Ukraine.
Ein Jahrhundert-Opfer
Die niederländische-ukrainische Virtual-Reality-Regisseurin hat ihren Jahrhundert-Roman als filmische Erzählung mit Virtual Reality Effekten angelegt. Es geht vor und zurück, um Krieg und Frieden, um Fliehen oder Bleiben, um Leben und Tod. Die Ukraine als Land des Leidens angefangen bei der Oktoberrevolution über den Hungerterror Stalins, den Holodomor, den Zweiten Weltkrieg samt Nazis und Holocaust bis zur Annektion der Krim.
Magischer Palast
Alles steht zeitgleich nebeneinander dank des magischen Realismus, mit dem Lisa Weeda die Vergangenheit in die Gegenwart holt. Passieren kann das nur im fiktiven Palast des verlorenen Donkosaken, den Lisas 1953 verstorbener Urgroßvater Nikolaj ihr öffnet. Es ist ein Ort der Untoten, ein magischer Ort, an dem historische Ereignisse nicht vergehen und an dem Lisas gefallene und ermordete Vorfahren als weiße Hirsche mit einem goldenen Pfeil im Rücken weiter leben.
Ukrainisches Trauma
Sie haben Leid und Elend erlebt, Unterdrückung und Vertreibung, Rebellion und Verzweiflung. Und alles scheint sich zu wiederholen, auch der verfluchte Krieg, der die Familienbande zerreißt. Ein ukrainisches Trauma. „Auf diesem Boden“, sagen die Alten, „ist schon zu viel verloren gegangen, für nichts und wieder nichts“.
Schicksal einer Familie
Das Schicksal von Aleksandras Familie steht stellvertretend für die Menschen in der Ukraine, die immer wieder überfallen, enteignet, vertrieben wurden. So wie Lisas Großmutter Aleksandra, die als Ostarbeiterin nach Deutschland verschleppt wurde. So wie die Menschen im Donbass, wo Russland hörige Separatisten eine Volksrepublik ausgerufen haben und wo Lisas Großonkel Kolja zu einem ihrer Opfer wird. „Unser Landstrich ist eine Bruchlinie, und wir versinken allmählich immer tiefer in der Erde“, sagt er seiner Großnichte. „Diesem Stück Land ist nichts vergönnt.“
Lektion in osteuropäischer Geschichte
Und doch keimt immer wieder Hoffnung auf bessere Zeiten. Wer diesen vielschichtigen Roman gelesen, wer mit den Menschen darin gelitten hat, wird verstehen, warum die Ukraine sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen die russische Invasion zur Wehr setzt. Zu lange schon und immer wieder war das Land ein Spielball anderer Mächte. Lisa Weedas „Aleksandra“ ist nicht nur ein beeindruckendes Familienporträt, sondern vor allem auch eine spannende Lektion in osteuropäischer Geschichte.
Hineingelesen…
… in den Palast des verlorenen Donkosaken
„Dieser Ort, dieses Ding hier, das du Palast des verlorenen Donkasaken nennst“, sage ich mit Mühe, „das ist doch der Palast aus dem Film? Bedeutet das dann nicht, dass der Krieg gar ncith ausgebrochen ist? Dass der Bau vollendet wurde? Dann können wir doch raus und mit dem Zug nach Woroschilowgrad fahren. Und Aleksandra wird zu Hause sein und auf dich warten.“
Wind weht mir durch den Spalt entgegen. Getreide wirbelt auf, direkt in Nikolajs Gesicht. Er hält sich die Hand vor Augen. Ich presse die Schulter und eine Pobacke zwischen die Tür und versuche, einen Blick zu erhaschen. Es gibt nichts zu sehen, außer breite schwarz-rote Absperrbänder rund um den Palast. Keine Moskwa in der Ferne, keine hohen Mietshäuser am gegenüberliegenden Ufer, keine langen Boulevards, keine marschierende Menschenhorde.
„Wenn das so wäre, meinst du, ich wäre dann noch hier?“ Nikolaj zieht mich weg, stößt mich unsanft ins Getreide und drückt seine Schulter gegen die Tür. Nach vier harten Schlägen auf das Holz ist der Palast wieder fest verschlossen.
„Das hier ist nichts weiter als ein Loch in der Zeit für die Träume, die nie Wirklichkeit geworden sind.“
Er kommt wütend auf mich zu, aber streckt die Hand aus. Ich lasse mich von ihm aus dem Getreide ziehen. An der Stelle, an der ihm eine Träne über die Wange läuft, wird seine Haut zu einem weißen Fell. Bei der zweiten Träne wächst im ein goldenes Geweih aus dem Schädel. Plötzlich steht ein Hirsch vor mir. Das Fell meines Urgroßvaters ist weiß und glänzt. Das Tier vergießt noch eine Träne und verwandelt sich dann wieder in Nikolaj.
„Komm“, sagt er, als er den Schrecken in meinen Augen bemerkt, „vielleicht solltest du einfach etwas essen, ich habe dir noch gar nichts angeboten. Das alles hier ist ziemlich verwirrend. Dieser Palast, die Zeit, alles. Daran habe ich gar nicht gedacht. Komm, lass uns Schokoladenkuchen essen. Dann erzähle ich dir von meinen ersten Jahren hier.“
Info Lisa Weeda. Aleksandra, aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann, Kanon Verlag, 286 S., 25 Euro
Keine Kommentare