„Ich liebe ihn sehr“, schreibt Helga Schubert gleich am Anfang zu ihrem „Stundenbuch der Liebe“ mit dem Titel „Der heutige Tag“. Der, den sie sehr liebt, ist ein pflegebedürftiger 96-Jähriger am Rand der Demenz. 66 Jahre kennt sie ihn. 17 ist sie, als sie ihn, den Uni-Assistenten, zum ersten Mal sieht. Erst Jahre später – da ist sie mit einem anderen verheiratet – eröffnet ihr dieser Mann „ein Tor in eine Welt vor meinem eigenen Leben“.
Der bewunderte Professor
Er ist Professor und hat „Schlag bei den Frauen“ und sie bewundert ihn, wird seine Geliebte und später – nach ihrer und seiner Scheidung – seine Frau. Derden nennt sie ihn und schreibt, dass er ein Teil von ihr ist – von Anfang an und erst recht als Patient, den sie mit nicht nachlassender Geduld pflegt. Und doch kommt der Tag, an dem er sie nicht erkennt, und es gibt Tage voller Verzweiflung: „Wenn ich Erbarmen mit Derden habe, dann ist die Traurigkeit weich. Und manchmal weine ich um uns beide.“ Dann wieder fragt Derden ganz der alte Egoist: „Was mache ich eigentlich, wenn du tot umfällst?“
Die zweite Kindheit
Helga Schubert nimmt es ihm nicht übel, sie weiß, auch sie denkt hin und wieder an sich und positive Folgen von Derdens Tod. Dabei liebt sie ihn bis zur Erschöpfung und darüber hinaus. Auch das schreibt sie und erzählt davon, wie Derden Mitte Februar Weihnachten feiern will und sie nachgibt – seinetwillen. Oder davon, wie er glaubt, sie sei tot gewesen und nun auferstanden. Dann denkt sie, dass ihr Mann im Kreislauf des Lebens eine zweite Kindheit erlebt.
Die Glücksmomente
Das tröstet und hilft über die Verzweiflung hinweg wie das Schreiben. Doch auch in der tiefsten Finsternis gibt es Glücksmomente im Zusammensein: „Ich war glücklich in diesem Moment mit ihm, und die Zeit dehnte sich, und ich hatte keine Angst vor dem Morgen.“ Diese Glücksmomente lassen sie den erschöpfenden Pflegealltag ertragen, darüber hinwegsehen, wenn der Urin des Bettbeutels sich auf den Teppich entleert oder Derden aus dem Rollstuhl fällt.
Die kleine Welt
Und ganz nebenbei findet auch noch das Draußen statt, die Erinnerung an die gemeinsame Zeit in der DDR, die Freunde, die Nachbarn. Die einsame Gegenwart, das alte Paar als Adressat eines Enkeltricks. Die Welt ist klein geworden auch für die Autorin. Sie fühlt sich allein gelassen in der aufreibenden Pflege, muss Termine absagen, die ihr gut getan hätten. Keine/r da, der helfen würde. Nicht die Kinder Derdens, nicht die Nachbarn. Und dann ist da auch noch Corona, und Helga Schubert stellt sich die Frage: „Wie lange wird in Deutschland die Pflege eines alten kranken hilfsbedürftigen Menschen, der gern zuhause leben und auch sterben will, noch so holperig sein, so ausschließlich auf einen einzelnen Angehörigen bezogen?“
Der lange Abschied
Es ist ein langer Abschied, den sich Helga Schubert in diesem Stundenbuch der Liebe aufbürdet. Ein Abschied, der sie fordert und den sie fürchtet. Schonungslos erzählt sie von den eigenen Anfechtungen. Gerade wegen dieser Offenheit ist dieses Buch eine Liebeserklärung und eine Feier des Lebens.
Info Helga Schubert. Der heutige Tag, dtv, 265 S., 24,70 Euro
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