Jonas Hassen Khemiri, 1978 als Sohn eines tunesischen Vaters und einer schwedischen Mutter in Stockholm geboren, gilt als die zornige Stimme der Vororte und als Star der schwedischen Literaturszene. Sein Debütroman, „Das Kamel ohne Höcker“ (2003), brachte ihm internationale Anerkennung ein. „Alles, was ich nicht erinnere“, sein vierter Roman, wurde mit dem August-Preis ausgezeichnet, dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis. Auch in diesem Roman leiht er den Vororten seine Stimme, den Menschen am Rand der Gesellschaft.
Ungeordnete Erinnerungsfetzen
Der Inhalt ist schnell erzählt: Der 27-jährige Samuel, der in einer Migrationsbehörde arbeitet, fährt den alten Opel seiner Oma gegen einen Baum. Unfall oder Selbstmord? Ein Autor – am Ende des Buches erfährt man mehr über diese Figur – versucht zu verstehen, was passiert ist und Samuels Leben und Persönlichkeit aus ungeordneten Erinnerungsfetzen seiner Freunde und Verwandten zusammenzusetzen. In oft nur fragmentarischen Statements berichten die unterschiedlichsten Ich-Erzähler über ihre Erfahrungen mit dem jungen Mann. Für den Leser ist es kompliziert, die einzelnen Puzzleteile den jeweiligen Personen zuzuordnen, denn Khemiri hält sich auch nicht an eine zeitliche Abfolge.
Am Ende ein Scherbenhaufen
So bleibt es dem Leser überlassen, die oft widersprüchlichen Einzelteile zum Ganzen zusammenzufügen. Ein Ganzes, das eine brüchige Welt offenbart. Unter den Stimmen schälen sich die wichtigsten Personen in Samuels Leben heraus: Die schwedische Mutter, die nichts mehr von ihm wissen will. Die liebevolle Oma, die in die Demenz abgleitet und deren leer stehendes Haus Samuel verfolgten Migrantinnen zur Verfügung stellt. Die ehemalige Freundin, die als „Pantherin“ in Berlin Karriere machen will. Der bullige Kleinkriminelle Vandad, für den die Freundschaft mit Samuel so etwas wie ein Anker in seinem Leben ist. Und dann noch Laide, in die Samuel sich Hals über Kopf verliebt und mit der er berauschende Wochen erlebt. Doch Sicherheiten gibt es nicht, auch nicht in der Liebe. Am Ende steht Samuel vor einem Scherbenhaufen. Kurz bevor er das Auto an den Baum fährt, kommt er selbst zu Wort. Auch sein Monolog macht rat- und hilflos.
Gegen die Wand
Khemiri erzählt eine Alltagsgeschichte auf ganz und gar nicht alltägliche Art. Und er gibt den Lesern zu verstehen, dass womöglich unsere ganze Gesellschaft gegen die Wand fährt – so wie Samuel gegen den Baum.
Info: Jonas Hassen Khemiri. Alles,was ich nicht erinnere, DVA, 330 S., 19,99 Euro
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