Traumwelt Berg

22. Oktober 2021

Kaum einer beschreibt das Leben in den Bergen so poetisch wie Paolo Cognetti („Acht Berge“). Der aus Mailand stammende Schriftsteller lebt seit 13 Jahren in einer einsamen Hütte im Aostatal. Für ihn eine Art Heimkehr, die er auch literarisch verarbeitet. „Die Berge, in denen ich immer die Sommer meiner Kindheit verbracht hatte, wurden für mich zu einem Ort, um mich wiederzufinden und nochmals neu anzufangen,“ erklärte er in einem Interview mit der FAZ. „Es ist, als verginge die Zeit dort oben viel langsamer. Das ist einerseits befreiend, weil alles andere im Leben sich so schnell wandelt. Andererseits ist es bedrückend, weil man fühlt, wie kurz man selbst nur auf Erden ist.“

Zuflucht an der kalten Quelle

Im neuen Roman „Das Glück des Wolfes“ hat Fausto nach der Trennung von seiner langjährigen Partnerin Zuflucht in Fontana Fredda gefunden – „vom Salz der Freiheit kostend und an der Bitterkeit der Einsamkeit knabbernd“. Er ist gern in den Bergen unterwegs und findet in dem knorrigen Santorso einen Freund, dem er nach einem Unfall beisteht. Statt zu schreiben versucht er sich als Koch. „Jemand, der etwas zu essen macht, wird immer gebraucht, jemand, der schreibt, nicht unbedingt“.

Seelenverwandtschaft

In der kellnernden Bergfreundin Silvia glaubt Fausto eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Die beiden teilen ihre Begeisterung für eine archaische von Gletschern gekrönte Landschaft. Doch die Liebe ist flüchtig, Silvia zieht es weiter hinaus in die Weite, während er zurückbleibt in einer Welt, in der der Wolf die Herrschaft übernimmt. Fausto heißt den vierbeinigen Jäger willkommen, auch wenn er unter den Rindern ein Massaker anrichtet.

Wunsch und Wirklichkeit

Er fühlt eine enge Verbundenheit mit dem Wolf und mit dem halb verlassenen Dorf. „Fontana Fredda war zu exakt gleichen Teilen Realität und Wunschvorstellung. Und über Fontana Fredda ragte der Berg auf, der den Träumen dieser Menschen vollkommen gegenüberstand und nach ihrem Erwachen einfach weiterexistieren würde.“

Hineingelesen…

… in die Rückkehr des Wolfs

Und so tauchte der Dieb ausgerechnet dann in Fontana Fredda auf, als der Wächter nicht da war. Er kam von Osten, vom Colle Finestra, noch bevor es hell wurde: Es war ein einsamer Wolf, der von einem Tal ins nächste zog, sich in den Wäldern aufhielt und die Straßen nur dann überquerte, wenn es nicht anders ging, und auch das nur nachts. Zu dieser Uhrzeit war der Schnee noch überfroren und trug ihn gut, sodass er den Pass erreicht hatte, ohne mehr Spuren zu hinterlassen als seine Krallenabdrücke im Steilhang. Er ließ die kleine Kapelle hinter sich, die Trockenmauer, die einst eine Grenze markiert hatte, und trat auf das kleine Hochplateau hinaus, im Mprgengrauen vor Sonnenaufgang.
Er schnupperte und stieß auf eine ferne Erinnerung, eine ererbte. So wie auch die Gesetze ererbt waren, denen er ohne jeden Zweifel gehorchte – in den Bergen bleiben, im Wald blieben, nur nachts unterwegs sein, sich von Häusern und Straßen fernhalten – , auch wenn er inzwischen gemerkt hatte, dass sich seit Aufstellung dieser Regeln etwas verändert hatte. Im Dorf musste schon jemand wach sein. Er witterte den Geriuch von Feuer, der der Geruch eines Menschen war, sowie den Geruch von dessen Vieh, aber das waren deutlich schwächere Signale als damals, als er oder jemand vor ihm von hier verjagt worden war.
Der Wind dreht sich, liebkoste die Berge und wehte Waldluft zu ihm herüber. Er witterte den Geruch von Gämsen, Hirschen, Wildschweinen: Das Wild war viel zahlreicher als einst, als seine Vorfahren tagelang auf der Lauer liegen mussten, um ein Murmeltier oder einen Dachs zu erwischen, Beute, die nicht satt machte und dazu zwang, ständig auf der Jagd zu sein. Jetzt räumte sein Feind das Feld. In den Wäldern gab es Beute in Hülle und Fülle, und das Jagen war einfach geworden. Der Wolf hielt die Schnauze in den Wind und wartete, bis er erneut vorbeistrich und weitere Informationen aus dem Tal mitbrachte. Er sah sich bestätigt: Der Menschengeruch war inzwischen nur noch ein Duftschweif, die Spur von jemandem, der vorübergezogen und nicht mehr da ist. Er musterte die unbestellten Felder, die erloschenen Schornsteine und sah eines dieser vielen verlassenen Dörfer, denen er auf seiner Wanderung bereits begegnet war. Ja, der Feind war geschwächt, vielleicht noch nicht harmlos, aber harmlos genug, um es wagen zu können. Vielleicht mussten die uralten Regelnd neu geschrieben werden. Er empfand noch etwas, das nichts mit Hunger, Jagd, Angst, Vorsicht, Kalkül zu tun hatte. Etwas, das er immer wahrnahm, wenn er einen Bergkamm erreichte und ein neues Tal vor ihm auftauchte. Eine Art Erregung, ein Duft, der noch verlockender war als der von einem Hirsch oder einer Gämse. Der Duft von Neuland, das es zu entdecken galt.

Info  Paolo Cognetti. Das Glück des Wolfes, Penguin, 204 S., 22 Euro

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