Ball spielen und erwachsen werden

21. Februar 2021

Fünf Jahre hat Benedict Wells an Hard Land geschrieben, war dafür einige Monate lang in den USA unterwegs und hat „wirklich jeden einzelnen Coming-of-Age-Film der 80ʼs geschaut“. „Ich habe für dieses Buch alles gegeben, was ich konnte, sagt der Autor über sein Buch. „Und ehrlich gesagt habe ich gerade diese Geschichte, diese Figuren, diesen Ort und dieses coming of age Genre so geliebt wie fast nichts bisher beim Schreiben.“

Der erste Satz sagt alles

Filme und Musik spielen auch in diesem Roman, der ein Jahr im Leben des jungen Sam erzählt, eine wichtige Rolle – und Zitate. „In diesem Sommer verliebte ich mich und meine Mutter starb“ lautet der erste Satz, eine Variation von Charles Simmons‘ erstem Satz in „Salzwasser“: „Im Sommer 1963 verliebte ich mich und mein Vater ertrank“. Und dieser Satz umschreibt eigentlich schon alles, was Sam in diesem Jahr 1984/85 zustößt.

Vom Außenseiter zum Insider

16 Jahre ist er alt, ein scheuer Knabe noch, einsam, ängstlich, unerfahren. Ein Einzelgänger ohne Freunde, der Angst davor hat, seine geliebte Mutter zu verlieren. Denn Sams Mom hat Krebs und wird wohl daran sterben. Diese Gewissheit überschattet sein Leben, bis er als Aushilfe im Kino neue Freunde kennenlernt, die älter sind, erfahrener, abgeklärter. Das Trio nimmt Sam unter seine Fittiche und die sprunghafte Kirstie wird seine erste Liebe. Der Außenseiter wird zum Insider: „… und ich fühlte mich so, wie ich mich schon mein ganzes Leben lang fühlen wollte: übermütig, und wach und mittendrin und unsterblich.“

Abtauchen in Gefühlswelten

Es ließe sich viel erzählen darüber, wie zerrissen der Junge ist zwischen Mutterliebe und dem Ruf des Abenteuers, wie lustig aber auch grenzwertig die gemeinsamen Erlebnisse mit den neuen Freunden sind – und wie todtraurig die Familie. Man könnte ganze Absätze zitieren, denn Benedict Wells kann schreibend nicht nur amerikanische Käffer erschaffen samt dem Menscheninventar, sondern auch in Gefühlswelten abtauchen ohne im Pathos zu versinken.

Die Lehren von Hard Land

Manches ist trotzdem ein Balanceakt wie auf Messers Schneide. Doch Wells entgeht allen Absturzgefahren, indem er Sam erzählen lässt – zuerst zaghaft, dann immer beherzter und mit wachsendem Selbstbewusstsein. Denn in diesem Jahr wird der schüchterner Junge erwachsen und er versteht, was das (fiktive) und oft rätselhafte Epos Hard Land, den er wie alle Jahrgänge vor ihm – auch Kirstie – in der Schule interpretieren soll, ihm zu sagen hat.
Benedict Wells hat einen wunderbare Coming-of-Age“-Roman geschrieben, emotional packend und voller Lebensmut. Großes Kino auch und mit einem Soundtrack, der mitreißt.

Hineingelesen…

… in die Schullektüre Hard Land

Wir redeten auch über die letzte Zeile von Morris‘ Gedicht. „Bis hinaus über die Zeit, denn zurückkehren kann ich nur als Mann“, sagte der Inspector, „das ist klassisches Coming of Age. Nur was verstehen wir unter dem Begriff eigentlich?“
Niemand meldete sich. Er zog eine Augenbraue hoch. „Nun, bei einem Blick in die Literaturgeschichte fällt auf, dass der klassische Held oft auf einer inneren und äußeren Reise ist. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen. Kurz: Coming of Age.“ Das Glasauge musterte die Bankreihen. „Weiß jemand außer dem Schluss noch eine Stelle im Gedicht, die sich explizit auf dieses Thema bezieht?“
Und wieder hob ich die Hand. Es war die Stelle, die Kirstie mir letzten Sommer gezeigt hatte: Der namenlose Held beobachtet ein Kind, das selbstvergessen mit einem Ball spielt, ehe die Mutter das Spiel unterbricht und die Tochter wegzerrt:

Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsen werden ist, wenn er wieder herunterfällt.

Ich las die ganze Passage vor und gab dazu Kirsties Erklärung ab, und jetzt schaute mich der Inspector anerkennend an. „Ausgezeichnet, Samuel. Da hat jemand das Buch gründlich gelesen.“
Ich freut mich über das Lob, trotzdem tauchte ich für den Rest der Stunde ab. Denn mir wurde bewusst, dass mein Ball schon längst wieder herunterfiel, und ich fragte mich, ob ich ihn zuvor, speziell im letzten Sommer, wirklich hoch genug geworfen hatte.

Info: Benedict Wells. Hard Land, Diogenes, 353 S., 24 Euro,  im Internet: www.hard-land.de

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