Lutz Seiler schreibt in seinem mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman „Stern 111“ darüber, was die Wende vor 30 Jahren ermöglicht hat. Es ist eine Zeit des Um- und Aufbruchs. Das Alte zerfällt, das Neue muss erst noch entstehen.
„Auf ihre Weise trugen Inge und Walter zum Umsturz bei, der überall im Gange war. Sie erschienen nicht mehr auf ihrer Arbeit, sie verließen ihren Platz und rüsteten zur Flucht, wenn man es so nennen wollte. Seine Eltern! Sie waren die unwahrscheinlichsten Flüchtlinge, die Carl sich vorstellen konnte.“
Eine Zuflucht für den Shigulimann
Carl soll in Gera die Stellung halten, auf die Wohnung und das Auto achten, „die Nachhut bilden“. Rund zwei quälende Wochen lang harrt er aus. Dann macht sich auch Carl auf die Reise – im Shiguli des Vaters. In Berlin wird der sorgsam gepflegte Wagen zur Zuflucht. Untertags erkundet er den Prenzlauer Berg, die Nächte verbringt er im Auto. Hätte ihn „das Rudel“ um den Hirten „Hoffi“ nicht gefunden, wäre er in den kalten Winternächten erfroren. So findet der „Shigulimann“ eine neue Familie, ein neues Lebensgefühl.
Er wird Teil einer revolutionären Gemeinschaft, der „Aguerilla“, erprobt neue Lebensformen und erkundet die Gegend um Rykestraße, Kollwitzplatz und Oranienburger Straße. Es ist eine heruntergekommene Gegend mit zerfallenden Häuserblocks, die vom Rudel des Hirten in Besitz genommen werden.
Das Rudel des Hirten
Der charismatische Mann, der von seiner Ziege Dodo begleitet wird, und gern im flügelartigen Poncho auftritt, trägt Züge eines alttestamentarischen Propheten. Er ist es, der das Rudel fröhlicher Dilettanten zusammenhält und zu gegenseitiger Hilfsbereitschaft verpflichtet. Und Carl, der sich zwar zum Dichter berufen sieht, aber auch eine Maurerlehre absolviert hat, passt in seine Pläne. Im Keller eines der Abbruchhäuser soll ein Treffpunkt entstehen, eine Art Café, „Die Assel“. Hierher verschlägt es nicht nur die selbst ernannten Guerilleros, sondern auch russische Soldaten und osteuropäische Huren. Auch Kruso verkehrt hier, der Titelheld des ersten– ebenfalls ausgezeichneten – Roman von Lutz Seiler. „Commandante“ nennen sie ihn hier, aber seine Kommandos sind nicht immer nachvollziehbar.
Der Traum der Eltern
Carl, den Maurer, kümmert das so wenig wie die große Politik oder die Wiedervereinigung. Er lebt mit seiner Arbeit in der Assel und den leeren Seiten auf der Werkbank in seiner Wohnung. Abwechslung in den Alltag bringen die Briefe seiner Mutter, die von dem, dem Sohn so fremden, Weg der Eltern erzählen. Walter und Inge gehen ihn konsequent, lassen sich auch von Rückschlägen nicht von ihrem Ziel abbringen. Sie haben schließlich ihr ganzes Leben zurückgelassen, um ihren Traum zu verwirklichen. Wie der aussieht, das erfahren Carl – und die Leser – erst gegen Ende des Romans.
Kein Platz für Dilettanten
Bis dahin verändert sich auch Carls Leben. Er hat seine Jugendliebe wieder getroffen und schöpft Hoffnung, mit ihr eine künstlerische Zukunft aufzubauen. „… er sah Freundschaft, Sex, Arbeit, sie waren Gefährten, und zusammen würden sie es schaffen, sie würden Künstler sein.“
Doch die Wirklichkeit holt nicht nur seine Scheinwelt ein, sondern auch die des „Rudels“. Der Hirte wird bei einem Häuserkampf schwer verletzt und vegetiert bis zu seinem kläglichen Ende mit seiner Ziege in einem Stall vor sich hin. Die Monate der Anarchie gehen zu Ende und damit die Zeit der scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten. Die Zukunft hat keinen Platz für den Hirten – und für Dilettanten. Auch für Carl ändert sich noch einiges. Die neue Zeit wird neu verhandelt.
Das Grau des Übergangs muss weichen
Carl will einen Mietvertrag „… vielleicht auch, weil inzwischen die ersten Häuser, nur ein paar Nummern weiter, komplett renoviert worden waren, wie es hieß. Ihre absurde, im Grau der Straße surreale Helligkeit(beige, gelb oder ockerfarben) blendete die Augen und überbrachte die Botschaft einer kommenden Zeit, in der es keinen Platz mehr geben würde für die gute alte Schwärze, weder für die meines Wohnens noch für die jener Taxis ohne Lizenz und erst recht nicht für den Ausschank ohne Konzession … All das würde bald vorbei sein.“
Info: Lutz Seiler. Stern 111, Suhrkamp, 528 S., 24 Euro
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