Isabel Allende ist mittlerweile 77 Jahre alt, hat 25 Bücher geschrieben und ist offensichtlich noch lange nicht am Ende ihrer Erzählungen angelangt. Im Gegenteil. Mit ihrem jüngsten Roman „Dieser weite Weg“ knüpft die Chilenin an frühere Erfolge an. Wie bei ihrem Debüt „Das Geisterhaus“ schöpft Isabel Allende auch hier aus ihrer eigenen Lebenserfahrung und aus den Erzählungen anderer. „Dieses Buch hat sich von selbst geschrieben“, sagte sie in einem Interview. „Ausdenken musste ich mir wenig.“
Inspiration aus der Flüchtlingskrise
Mit inspiriert zu der Lebensgeschichte zweier katalanischer Flüchtlinge in Chile hat Isabel Allende nach eigenen Worten die aktuelle Flüchtlingssituation. Und tatsächlich fühlt man sich immer wieder an die Migranten-Diskussion unserer Tage erinnert, die zwischen Ablehnung und Willkommens-Euphorie schwankt: „Frankreich beobachtete mit Entsetzen, wie eine riesige Menge entkräfteter Menschen an seine Grenze drängte und nur mit Mühe in Schach gehalten wurde… Das Land war überfordert mit dieser Massenflucht der Unerwünschten.“
Ganz anders der Empfang der Flüchtlinge in Chile: „Niemand an Bord hatte mit dem Empfang gerechnet, den man ihnen bereitete… Hinter Absperrungen drängten sich Massen von Menschen mit Transparenten und spanischen, republikanischen, baskischen und katalanischen Fahnen und ein heiserer Chor von Hochrufen hieß sie willkommen.“
Wege, die sich kreuzen
Im Mittelpunkt des Romans steht der junge Mediziner Victor Dalmau, der im Lazarett die Opfer des spanischen Bürgerkriegs versorgte, während sein Bruder Guillem gegen die Franco-Truppen kämpfte und fiel. Nach einem langen Leidensweg gelingt Victor auf dem von Pablo Neruda gemieteten Frachtschiff Winnepeg die Flucht. Zusammen mit der von seinem Bruder schwangeren Pianistin Roser entkommt er nach Chile.
Und während die Migranten auf der Winnipeg gerade mit dem Leben davongekommen sind, vergnügt sich auf einem Kreuzfahrtschiff der reiche Chile Isidro del Solar mit Frau und Tochter. Die Wege der Dalmaus und der del Solars werden sich in dem Roman noch mehrmals kreuzen, was am Ende für eine handfeste Überraschung sorgen wird.
Als Venezuela noch reich war
In Santiago kommen Roser und Victor auch durch die Vermittlung wohlmeinender Freunde zu einem gewissen Wohlstand, lange sind sie einander nur platonisch verbunden, bis sie
über einige Irrwege auch erotisch zu einander finden. Doch der Militärputsch in Chile zwingt sie erneut zur Flucht – nach Venezuela, damals dem reichsten Land in Lateinamerika: „Das Land war eine der wenigen verbliebenen Demokratien auf einem Kontinent, der von autoritären Regimes und Militärjuntas beherrscht wurde, eines der reichsten Länder der Welt durch das Öl, das stetig aus seiner Erde sprudelte, und dazu gesegnet mit anderen Bodenschätzen, einer überbordenden Natur und einer privilegierten geografischen Lage.“
Die Geschichte dreht sich im Kreis
Nicht nur hier schöpft die 77-jährige Isabel Allende aus ihrer reichen Lebenserfahrung. Sie hat Umstürze und Gewalt, Putschisten und Folterer ebenso mit erlebt wie die Geburt von Demokratien und den Niedergang großer Staaten. Die Geschichte, so scheint es, dreht sich im Kreis.
Vieles, was Isabel Allende in ihrem erstaunlich kompakten Roman skizziert, kennen ihre Leser aus anderen Büchern: Exil, Heimat- und Identitätsverlust, die Brutalität der Machthaber, Entbehrungen und Todesmut, aber auch die Arroganz der Upper Class, den Starrsinn katholischer Würdenträger – und Menschen mit goldenem Herzen. Überhaupt das Herz. In diesem Roman wird es so etwas wie ein roter Faden. In einer bewegenden Szene rettet Victor auf einem spanischen Schlachtfeld einem Jungen das Leben, indem er dessen Herz wieder zum Schlagen bringt, später wird er Herzpatienten operieren, immer in der Überzeugung, dass das Herz mehr ist als ein Organ. Denn Helfen ist für Victor ein Herzensanliegen.
Der Nobelpreisträger und der Präsident
Ein anderes wichtiges Bindeglied ist die Figur des Nobelpreisträgers Pablo Neruda, der hier als Menschenfreund und -Retter auftritt und der kurz nach dem Putsch in Chile unter ungeklärten Umständen starb. Zitate aus seinen Werken sind den einzelnen Kapiteln des Buches vorangestellt. Auch Salvador Allende, der Onkel der Autorin und von Putschisten ermordete Präsident Chiles, kommt in dem Roman vor – als Schachfreund Victors und prinzipientreuer Politiker.
Man wandert gerne mit Victor und Roser durch Zeit und Raum, auch wenn sich Isabel Allende hin und wieder zu melodramatischen Szenen hinreißen lässt. Denn dieser geschichtspralle Liebesroman, der einen Zeitraum von 60 Jahren und zwei Kontinente überbrückt, entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Info: Isabel Allende.Dieser weite Weg, Aus dem Spanischen von Svenja Becker, Suhrkamp. 382 S.,. 24 Euro
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