Vom Charme der Normalität

21. August 2017

„Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern.“ Was Bert Brecht über seine Schulzeit geschrieben hat, hätte auch William James Sidis unterschreiben können. Der „Held“ in Klaus Cäsar Zehrers Debütroman „Das Genie“ hat die Schulzeit regelrecht durchlitten. Nicht, weil er über- sondern weil er unterfordert war.  Denn William James war von seinen Eltern, dem ehrgeizigen und ebenfalls genialen Psychologen Boris Sidis und dessen zur Medizinerin promovierten Ehefrau regelrecht zu einem Genie herangezüchtet worden.

Dem Überflieger wurde das Wissen der Welt eingetrichtert 

Schon im Grundschulalter beherrschte Billy mehrere Sprachen und ließ in Mathematik die Lehrer alt aussehen. Doch der Überflieger, dem schon als Baby das Wissen der Welt eingetrichtert wurde, stößt mit seiner geschwätzigen Besserwisserei seine Mitmenschen vor den Kopf. Rücksichtnahme auf andere hat er nie gelernt, Liebe nie erfahren. Billy ist kreuzunglücklich. Lieber wäre er ein ganz normaler Mensch statt ein Genie: „All diese Leute, dachte William, waren normal, ohne dass es sie Anstrengung kostete. Die Normalität fiel ihnen so leicht wie ihre Muttersprache. Seine Muttersprache war die Außergewöhnlichkeit. Das war der Fluch seines Lebens: Es gab niemanden, mit dem er in seiner Sprache reden konnte.“

Das Genie rebelliert gegen die Gesellschaft

Nach einer äußerst unorthodoxen Schullaufbahn steht Billy zwar die Welt offen, doch zur großen Enttäuschung seiner Eltern geht er einen radikal anderen Weg und weigert sich, sein überragendes Wissen einem Regime zur Verfügung zu stellen, das er ablehnt. Das Genie rebelliert gegen die Profitgier der Gesellschaft – auf seine ganz eigene Art und mit aller Konsequenz. William, der immer das Gefühl gehabt hat, nie in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein, stellt sich bewusst an deren Rand und zieht seine Befriedigung aus dem Sammeln nutzloser Transfers-Tickets und dem Schreiben ebenso nutzloser Pamphlete.

Eine wahre Geschichte, ein außergewöhnlicher Roman

Der aus dem bayerischen Schwabach stammende Autor Zehrer hat diese unglaubliche Lebensgeschichte nicht erfunden, sondern aus einem großen Literaturfundus über William James Sidis und seinen Vater Boris geschöpft. Doch daraus hat er einen außergewöhnlichen Roman destilliert, der auch zeigt, wie weit es arme Migranten bringen können, die ein brennender Ehrgeiz antreibt und wie wenig überragende Intelligenz nützt, wenn sie nicht mit „Herzensbildung“ einhergeht. Der Aufstieg von Boris Sidis vom zerlumpten Einwanderer zum gefeierten Psychologen ist dabei allerdings spannender zu lesen als der Niedergang seines Sohnes vom bewunderten Genie zum mittellosen Sonderling.
Info: Klaus Cäsar Zehrer. Das Genie, Diogenes, 650 S., 25 Euro

 

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