Ist das jetzt ein Sachbuch oder eines der derzeit so gehypten Memoirs? Kajzer, das Debüt von Menachem Kaiser ist womöglich beides. Denn der jüdische Kanadier schildert die Spurensuche nach seinen Vorfahren, die aus Polen vertrieben wurden oder im Holocaust ums Leben kamen. Die Adresse Konkret geht es um den Versuch, ein Wohnhaus, das dem Großvater gehörte, zurückzubekommen. Ausgangspunkt teilweise kafkaesker Verwicklungen ist die Adresse Malachowskiego 12 in der polnischen Stadt Sosnowiec im früheren Schlesien. Hier beginnt der Enkel 2015 mit seinen Recherchen, lässt sich von den freundlichen Bewohnern aus ihrem Leben in dem Haus berichten („This is my family‘s house“, das ist das Haus meiner Familie, sagt einer). Flankiert wird Menachem Kaiser dabei von seiner Anwältin, „Killerin“ genannt, und deren Assistentin. Der Großonkel Statt bei dieser aufwendigen Spurensuche dem Großvater näher zu kommen, entdeckt der Enkel einen unbekannten Verwandten, der in Polen durchaus Anerkennung genießt. Unter Schatzjägern, mit denen Menachdem Kaiser auf seiner Reise in die Vergangenheit ebenfalls in Berührung kommt. Dieser Abraham Kajzer hatte über seine Zeit in einem polnischen KZ sogar Buch geführt und das später veröffentlicht. Dabei ging es auch um das legendäre Großprojekt Riese der Nazis, das die Fantasie der polnischen Schatzjäger bis heute beflügelt. Das…
Ums Moor ranken sich schaurige Sagen und gespenstische Geschichten. Doch die lange Zeit verachteten Moore sind nicht nur eine wichtige Lebensgrundlage für viele Tiere, sie sind auch ein gigantischer CO²-Speicher, effektiver noch als die Wälder. Die Pulitzer-Preisträgerin Annie Proulx („Schiffsmeldungen“, „Brokeback Mountain“, „Das grüne Akkordeon“) hat mit „Moorland“ eine bewegende Liebeserklärung an dieses gefährdete Ökosystem verfasst. Die Zerstörung der Moore Dabei geht sie weit zurück in die Urzeit, als die Moore noch weite Flächen unserer Erde bedeckten, ein Habitat für eine Tierwelt, so vielfältig, wie wir sie heute kaum mehr kennen. Doch mit der Sesshaftwerdung der Menschen begann der Feldzug gegen die Moore, ihre Geschichte ist die ihrer Zerstörung. Denn sie waren auch Brutstätten für die Anopheles-Mücke, die Malaria überträgt. Vor allem aber versprach ihre Trockenlegung neue Acker- und Weideflächen. So ging eine ganze Kultur verloren – die der Moor-Menschen. Die Menschen hätten „das selbstheilende Gespinst des Lebens“ zerrissen, schreibt Annie Proulx. Wasser als Gestaltenwandler Immer wieder beschwört sie die Schönheit und Einmaligkeit der Feuchtgebiete, die Symbiose mit den dort lebenden Tieren und Pflanzen – Biber, Enten, Gänse, Aale, Fischadler, Rohrweihen, Sperlingsvögel, Kraniche, Frösche, Schmetterlinge, Libellen und „Myriaden von Pflanzen“: Sie alle sind zusammen mit den Mooren verschwunden. Wasser, schreibt…
Weihnachten, das heißt nicht nur Heiliger Abend und Geschenke, das heißt auch Ferien. Und im Winter können die ganz schön langweilig sein, wenn das Wetter nicht mitmacht. Umso schöner ist es, sich gemütlich in einen Sessel oder ins Sofa zu kuscheln und zu lesen oder gemeinsam ein Bilderbuch anzuschauen. Hier sind ein paar Tipps für kleine Lese-Auszeiten nicht nur zur Weihnachtszeit. Rico und das Problem mit den Ecken „Rico, Oscar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel ist ein Kinderbuchklassiker, er es bis zur Schullektüre geschafft hat. Der „tiefbegabte“ und liebenswerte Rico ist Eltern und Kindern ans Herz gewachsen. Mit dem kleinen Protagonisten weckt Steinhöfel Sympathien für Menschen, die anders sind, die am Rand stehen, weil sie keine Schnellchecker sind. In dem Bilderbuch „Rico und die Tuchlaterne“ geht es um den Schulweg. Denn Rico denkt zwar gern um Ecken, aber er kann nicht um Ecken gehen, weil er dann sofort vergisst, welche Richtung er einschlagen muss. Wie seine Mama das Problem löst und wie Rico in seiner – besonderen – Schule zurecht kommt, liest sich leicht und unterhaltsam. Steinhöfel ist ein Meister darin, einfach und doch hintergründig zu formulieren. Und die Illustrationen von Lena Winkel machen die kleine Geschichte zu einem…
Wer träumt nicht davon, fliegen zu können – leicht wie ein Vogel? Sofia im Roman „Der Traum vom Fliegen“ von Milena Moser kann das, aber sie hat keinen Einfluss auf den Flug, fühlt sich ausgeliefert. Denn jeder Flug konfrontiert sie mit dem Elend dieser Welt: Der Traum wird zum Alptraum. Behütet und gemobbt Das Wunschkind zweier schwuler Männer, wächst in einer behüteten Umgebung auf und ist lange eine Vorzeigetochter. Doch Sofia, die schon früh vom Fliegen träumt, ist auch einsam, wird in der Schule gemobbt. Trotzdem erhält die begabte Schülerin einen Studienplatz an einer privaten Elite-Uni, sogar ein Stipendium. Doch das alles verliert sie wieder. Denn um dem Alptraum des Fliegens zu entgehen, futtert sich Sofia zum Schwergewicht. Zumutungen des Klinik-Alltags Die beiden Väter sind ratlos, wissen sich nicht anders zu helfen, als Sofia in eine Klinik zu bringen – in der Hoffnung, dass sie dort abnehmen werde. Das verwöhnte Mädchen wehrt sich anfangs gegen die Zumutungen der Ärzte und Psychotherapeuten. Auch die Mitbewohnerin Emerald, die sich mit einer Instagram-Inszenierung als „Cancergirl“ zum Ziel eines Shitstorms gemacht hatte, nervt sie. Neue Freunde Doch allmählich lässt sich Sofia auf die veränderten Umstände ein, findet in der magersüchtigen Emerald mit dem ausgeprägten…
Für Margot Flügel-Anhalt, inzwischen 70, ist Ruhestand ein Fremdwort. Sie ist am liebsten unterwegs und das mit den unterschiedlichsten fahrbaren Untersätzen. Als Rentnerin fuhr sie mit einer kleinen Honda über den Pamir Highway, mit einem Benz bis Laos und mit einem Lada Niva zum Nanga Parbat. Über ihre Touren gibt es Filme und Bücher. Diesmal blieb die rüstige Abenteurerin in Europa. Mit einem E-Bike vom Discounter fuhr sie die Donau entlang – von der Quelle bis zur Mündung und zurück mit einem „Seniorendampfer“. Eine Frau unter Strom Dabei lässt sich die Rentnerin von kaum etwas schrecken. Weder von wilden Hunden noch von Regengüssen und schlammigen Straßen, auch nicht von Lastwagen, die ihr und ihrem Bike an Engstellen gefährlich nahe kommen. „Ich vertraue mir“, schreibt sie schlicht in dem Buch über dieses E-Bike-Abenteuer „Unter Strom“. Den Titel darf man getrost als doppeldeutig interpretieren. Steht doch auch die Bikerin die meiste Zeit unter Strom. Die Bayern „ein bisschen Söder“ Zweieinhalb Monate hat Margot Flügel-Anhalt für die 2847 Kilometer lange Strecke kalkuliert. Sie will Zeit haben für den Fluss, für Entdeckungen, für Gespräche mit den Menschen. Auch da rechnet sie mit Überraschungen. Das beginnt schon in Bayern: „Ein bisschen machen sie mir Angst,…
Alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit durchstöbere ich meine Bücher nach besonderen Schätzen, die Reisenden Freude machen könnten aber auch Menschen glücklich machen, die von Reisen träumen. Hier ist meine Buchauswahl, die hoffentlich für jeden und jede etwas bietet. Für Bergfreunde Beim Klettern und Fotografieren, könne er „mit voller Begeisterung in etwas versinken“ wie einst als Bub in den Bergen, schreibt Heinz Zak im Vorwort zu dem monumentalen Bildband „Tirol – Magie der Berge“. Tatsächlich können auch die Betrachtenden in den grandiosen Bildern versinken, die der Fotograf ausgewählt hat. Bilder von Sonnen- und Mondaufgängen, von Föhn- und Gewitterstimmungen, von schroffen Felsen und knorrigen Bäumen, von Eis und Schnee. Auch solche von Wolkenformationen, von Blumenwiesen, Seen, Höhlen und Wasserfällen. Man weiß gar nicht, welches Motiv eindrucksvoller ist. Magisch sind sie alle in ihrer fast überirdischen Schönheit. Manchmal fotografiert Zak „wie außerhalb von Zeit und Raum“, und so fühlt man sich auch beim Betrachten dieser Fotografien, die unsere Augen für die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Berglandschaft öffnen. Info Heinz Zak. Tirol – Magie der Berge, Tyrolia, 256 S., 48 Euro Für Leseratten Die Arbeitszimmer von Goethe und Schiller sind wahre Pilgerstätten. Nicht alle Schriftsteller haben solche Arbeitszimmer, manche schrieben und schreiben in…
Was für ein Roman: Die Frauen von Shonagachi nötigen uns jede Menge Respekt ab. Rijula Das holt diese von der Gesellschaft geächteten Frauen ins Rampenlicht. Denn sie sind allesamt Huren und arbeiten in einem Bordell in Südasiens größtem Rotlichtviertel in Kolkata. Die „Bordellmutter“ Shefali Madam regiert ihr Reich mit harter Hand. Erzählt wird der aufwühlende Roman entlang der erfahrenen und ziemlich abgebrühten Prostituierten Lalee und ihres Verehrers, des schüchternen Möchtegern-Autors Tilu. Der Retter von der traurigen Gestalt Im Moloch von Kolkata treffen die beiden immer wieder aufeinander. Tilu ist Lalees bester und sicherster Kunde, auch wenn er kaum Geld zum Überleben hat. Aber er liebt diese Frau, die ihn kaum beachtet. Und als Lalee eines Tages verschwunden ist, ahnt er, dass sie in Gefahr ist und stürzt sich in eine Rettungsaktion wie Don Quijote in den Kampf gegen die Windmühlen. Ordnungshüter ohne Ordnung Rijula Das braucht diese humoristischen Einlagen, damit das, was sie zu erzählen hat, erträglich wird. Denn da geht es um Mord, um Kindsmissbrauch, um religiösen Fanatismus und um einen Guru, der seinen Einfluss dazu nutzt, seine perversen Gelüste auszuleben. Auf der anderen Seite, der Seite der staatlichen Gewalt, Polizisten ohne Plan und ohne Engagement. Verpeilte Männer, die…
Anfangs wollte kein Verlag die Texte von Alex Schulmann veröffentlichen. Also begann er als Blogger, denn schreiben war für ihn existentiell. Er schrieb über sich, sein Leben, seine Erfahrungen – und hatte Erfolg. Heute ist der 1976 geborene Schwede einer der erfolgreichsten Autoren seines Landes. Der Durchbruch gelang ihm mit „Verbrenn‘ alle meine Briefe“ auch international. Jetzt also ein neuer Schulmann „Endstation Malma“, anders als die Vorgänger und mit einer ganz eigenen Erzählstruktur. Die Wahrheit der Bücher „Bücher haben eine eigene Wahrheit“, hat Alex Schulmann in einem Interview gesagt, als er auf die autofiktionalen Inhalte seiner Romane angesprochen wurde. Kindheit ist für ihn alles. Deshalb spielt sie auch in seinen Romanen eine wichtige Rolle. Das ist in „Endstation Malma“ nicht anders. Anders ist aber, dass die Erzählenden aus verschiedenen Generationen stammen. Ein Zug – drei Generationen Alles beginnt damit, dass die kleine Harriet mit ihrem Vater im Zug nach Malma fährt, ein schüchternes, verunsichertes Mädchen. Schon im nächsten Kapitel ist sie eine Frau, die sich scheinbar selbstbewusst über gesellschaftliche Normen hinwegsetzt – auch auf der Zugfahrt, auf der sie Oskar begegnet, der diese für die beiden entscheidende Episode erzählt. Und wieder ein Kapitel später ist es die unsichere, dickliche Yana,…
So ein Besuch verlassener und vergessener Orte kann ganz schön abenteuerlich sein – nicht nur an Halloween, dem Tag der Geister. Zumindest deutet Cornelia Lohs das in den Verhaltensregeln an, in denen sie nicht nur darum bittet, die Orte mit Respekt zu behandeln, sondern auch dazu rät, nicht allein zu gehen und sich mit festem Schuhwerk und reißfester Kleidung auszurüsten. Römerkastell und Rakete Dann kann‘s losgehen. 33 düstere und unheimliche Orte hat die Cornelia Lohs im Odenwald aufgespürt: verfallene Klöster, Burgruinen, verlassene Friedhöfe, Höhlen, ja sogar Galgen. Manche der Orte stammen aus der Römerzeit wie die Ausgrabungen des Römerbads Kastell Würzburg, andere aus der Neuzeit wie das Raketenmodell am Ortseingang von Hardheim, das an den Raumfahrtpionier Walter Hohmann erinnern soll. Relikte aus der Nazizeit An eine düstere Geschichte aus nicht allzu lang vergangener Zeit erinnert der „Goldfisch-Pfad“, ein zweieinhalb Kilometer langer Rundweg im Obrigheimer Wald, der die oberirdischen Überreste zweier unterirdischer Rüstungsfabriken aus der Nazizeit verbindet. An zehn Stationen wird von dem Menschen verachtendem Projekt (Tarnname Goldfisch) erzählt, von Rüstungswahn und Zwangsarbeit. Schaurige Szenerie Cornelia Lohs ist ihren „Lost & Dark Places“ sehr nahe gekommen, hat sie so fotografiert, dass sie besonders schaurig wirken – vor dunklen Wolken, im Nebel….