Der Schriftsteller Hernan Diaz hat mit dem Roman „Treue“ (im Original „Trust“ – Vertrauen) ein literarisches Meisterwerk geliefert. Doch worum geht es in diesem verschachtelten Roman? Mit der Geschichte eine fiktiven Wallstreet-Milliardärs und seiner Frau lockt Diaz die Lesenden in ein literarisches Labyrinth, wobei er ein raffiniertes Spiel mit Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ treibt. Vier verschiedene Perspektiven In vier verschiedenen Perspektiven kreist Diaz um den Wallstreet-Tycoon Andrew Bevel und seine Frau Mildred. Am Anfang steht ein Roman um den erfolgreichen Aktienspekulanten Benjamin Rask und dessen psychisch kranke Frau Helen, die in einer Schweizer Nevenklinik an den Folgen barbarischer Experimente stirbt. Es folgt die Lebensgeschichte Andrew Bevels, die auffallend viele Parallelen zum Roman hat, in der Mildred allerdings in einem Sanatorium ihrem Krebsleiden erliegt. Die Memoiren der Journalistin Ida Partenza, die als 20-Jährige Bevels Memoiren teilweise aus der eigenen Fantasie ergänzte, rücken einiges zurecht. Doch eine Art Auflösung bringt erst Mildreds Tagebuch. Bilder einer Frau Wer also ist Mildred/Helen? Eine durch die Kindheit als Hochbegabte traumatisierte Frau, die der Fortschrittsglaube ihres Mannes umbringt? Eine warmherzige Mäzenin und liebevolle Ehefrau, die der Krebs dahinrafft? Oder eine kluge Finanzjongleurin, die bis an ihr Ende und darüber hinaus nicht aus dem…
Zwei Jahre waren Nina Stögmüller und Robert Versic auf der Suche nach Kraftplätzen im Salzkammergut unterwegs. Entdeckt haben sie viele: Kultplätze, Kapellen, heilkräftige Quellen, Wallfahrtsorte. In ihrem Buch „Märchenhafte Kraftplätze“ stellen sie 25 Wanderungen vor, die dazu einladen, im Salzkammergut Kraft zu tanken. Gemütlich bis abenteuerlich Die meisten Touren sind Rundwanderungen und sollten für „wandererfahrene Personen gut zu bewältigen sein“, wobei es auch da Unterschiede gibt. Manche Tour wie die zur Ewigen Wand und zum Predigtstuhl beinhaltet steile Felsstufen oder Drahtseilsicherungen, andere Wanderungen wie die zum Altausseer See und Gaisknechtstein sind eher gemütlich, wieder andere wie die zu den Steinklüften überraschen durch abenteuerliche Felsspalten und Kammern. Nixe und Eichhörnchen Dass Namen wie „Hexenküche“, „Felsentempel“ oder „Kalte Kuchel“ die Märchenerzählerin Nina Stögmüller zu eigenen Märchen inspirieren, kann man sich gut vorstellen. Ganz besonders märchenhaft ist die Wanderung zum Nixenfall beim Attersee. Und im Märchen vom Eichhörnchen und der Zaubernuss erwacht die sagenhafte Nixe zum Leben. Erfahrung mit Kraftplätzen Zu allen 25 Wanderungen hat die Autorin nicht nur Märchen und Sagen, sondern auch „Kraftplatzerfahrungen“ gestellt. Bei der Wanderung zur Falkensteinkirche am Wolfgangsee etwa ist es nicht nur das Heilwasser des Heiligen Wolfgang, der hier als Einsiedler lebte. Es ist auch der Durchschlupfstein,…
Wütende Bärin heißt dieser verstörende Roman von Ingeborg Berg Holm. Und die norwegische Autorin gibt schon im Prolog die ebenso unterkühlte wie abschreckende Atmosphäre vor: „So wird die Leiche liegenbleiben, mit einem Fleckchen nackter goldener Erde um den angenagten Schädel. .. Und selbst wenn der Körper sich vollständig aufgelöst hat und die Knochen verwittert sind, wird der Nylonanzug fortbestehen. Eine fossile Plastikhülle in Menschenform, gekrönt von einem Glorienschein aus Pflanzen, wo der Kopf zu Erde geworden ist.“ Drei Perspektiven und ein Kind Noch weiß niemand, wer von den drei Protagonisten die Leiche sein wird, die hier die Erde düngt. Es geht um Njal, Sol und Nina, die abwechselnd ihre Sicht der Dinge schildern. Vor allem aber geht es um Lotta, das Kind, um das die Gedanken der drei so unterschiedlichen Menschen kreisen. Wunschwelt und Realität Für Njal ist Lotta die Erfüllung seines nagenden Kinderwunsches, ein kleiner Mensch als Versprechen für die Zukunft. Für Nina, die auf Njal wegen ihres Körperumfangs wie ein „Fruchtbarkeitsfetisch“ wirkt, die aber nie Kinder wollte, war schon die Geburt ein Alptraum. Sie fühlt sich entfremdet und lehnt im tiefsten Inneren das Kind ab. Und Sol, die Njal wegen Nina verlassen hat? Die Pastorin mit den speziellen…
Man sieht es nicht, aber Gletschereis fließt – langsam und stetig. Zwischen zehn und 200 Metern pro Jahr, schreibt Angelika Jung-Hüttl in dem beeindruckenden Bildband AlpenEis. Mit diesem Fließen ist allerdings nicht das Schmelzen des Eises gemeint, das in den letzten Jahren bedrohliche Formen angenommen hat. Abschied vom ewigen Eis Ewiges Eis? Das war einmal. Der Geologe und Landschaftsfotograf Bernhard Edmaier stellt Fotos gegenüber, die er in einem Zeitraum von 20 Jahren aufgenommen hat. Eindrucksvoll dokumentieren sie den Gletscherschwund. Aber sie zeigen auch die Schönheit von AlpenEis : Die zerklüftete Gletscherlandschaft der Seracs, die blaugrünen Schmelzwasserseen am Ende der Gletscherzungen, die verzweigten Rinnsale aus den Tiefen des Eises. Die Gletscher schwinden Dann aber auch das: Gesteinsmassen am Rand der Gletscher, Moränenschutt auf den Eis, graue statt weiße Gletscher und vom tauenden Permafrost gespaltene Gipfel. Alles ist im Fluss. Die Gletscher schwinden wie der kleine Höllentalgletscher an der Zugspitze, neue Landschaften entstehen. Wo sich das Schmelzwasser der Gletscher ansammeln kann, entstehen Seen, auf den Steinwüsten, die zurückweichende Gletscher hinterlassen, keimt neues Leben. Gletschersturz an der Marmolada Noch gibt es rund 4400 Gletscher in den Alpen, aber vielen von ihnen droht der „Tod durch Klimaerwärmung“ wie dem Pizolgletscher im Schweizer Kanton Glarus….
Die Italienerin Nicoletta Verna hat bisher Sachbücher geschrieben. „Der Wert der Gefühle“ ist ihr Romandebüt. Und das ist ziemlich aufregend: Sie sind ein glamouröses Paar, die schöne Bianca und der erfolgreiche Herzchirurg Carlo. Doch sind sie auch glücklich? Zumindest bei Bianca, der Ich-Erzählerin in Nicoletta Vernas verstörendem Roman, kommen schnell Zweifel auf. Was hat es auf sich mit ihrem Zwang, Abfälle zu sortieren? Oder Dinge zu kaufen, um sie im Müll zu entsorgen? Das Drama ihres Lebens Nicoletta Verna gibt immer wieder kleine Hinweise auf ein Drama, das Biancas Leben überschattet – es ist der Tod ihrer bewunderten Schwester Stella. Doch warum das so ist und wie die 14-jährige Stella gestorben ist, das enthüllt sich den Lesenden nur ganz allmählich. Der Tod und seine Folgen Dafür erfahren sie, dass Biancas Mutter nie über den Tod ihrer älteren Tochter hinweg gekommen ist, dass der Vater die trauernde Familie verlassen hat, dass Bianca kaum Freunde oder Freundinnen hat. Außer Liliana, die engste Freundin Stellas, die auf den Rollstuhl angewiesen ist. Sie macht ihr Handicap allen anderen zum Vorwurf und scheint eine sadistische Freunde dabei zu empfinden, Bianca mit Erinnerungen an ihre tote Schwester zu quälen. Und dann wäre da noch die selbstgefällige…
Stephan Orth liebt das Reisen, gern zu Sofas in aller Welt. Doch in Corona-Zeiten war es nichts mit Couch-Surfing. „Nun stattdessen Einreisebeschränkungen, Flugausfälle, Abstandsregeln. Es ist, als wolle uns ein mikroskopisch kleines Virus klarmachen, endlich mit den Makro-Reiseexzessen aufzuhören und einzusehen, dass es nicht normal ist, für ein Viertel oder Sechstel eines Monatsgehalts um die halbe Welt zu fliegen.“ Aus- statt eingesperrt Doch immer nur zu Hause zu sitzen war auch nichts für den umtriebigen Journalisten, zumal er sich auch immer bewusst ist, dass „ohne persönliche Begegnungen ferne Länder immer abstrakter werden“. So kam er auf die Idee, vier Wochen durch sein einstiges Lieblingsland England zu reisen und dabei immer draußen zu bleiben. Aus- statt eingesperrt also. Zu Fuß, mit dem Rad, auch mal auf dem Fluss in einem Paddelboot. Ein Weg ohne Reiseführer „Ich bin eine Art pandemischer Katastrophentourist“, schreibt Stephan Orth am Anfang. Als solcher wird er viel erleben und sich immer mehr ans Draußensein gewöhnen. Und am Ende, nachdem er mehr als 750 Kilometer aus eigener Kraft geschafft hat „auf einem Weg, der in keinem Reiseführer der Welt vorgeschlagen wird“, könnte er sich vorstellen, wieder mal „ein fröhlicher Landstreicher mit Kreditkarte, Regenjacke und Auslandskrankenversicherung“ zu sein. Ein…
Kann es sein, dass traumatische Erlebnisse der Vorfahren auch noch die Nachkommen belasten? Alex Schulman ist überzeugt davon, dass sein Großvater, der Schriftsteller Sven Stolpe, an seinen unvermittelten Wutanfällen Schuld trägt. Weil er damit nicht nur seine Frau schockiert, sondern auch seinen Kindern Angst einjagt, beschließt er, dieser Wut auf den Grund zu gehen. Dabei stößt er auf ein Familiengeheimnis, das ihn zu einem Roman inspiriert. In „Verbrenn alle meine Briefe“ beschreibt Alex Schulman die eigenen Probleme, dokumentiert seine Expedition in die Familiengeschichte und konzentriert beides in einer anrührend poetische Liebesgeschichte. Die Wut des Großvaters Die Wut des Großvaters, davon ist der Enkel überzeugt, hat die ganze Familie vergiftet: „Meine Mutter war die Jüngste von vier Geschwistern, sie hatte zwei Brüder und eine Schwester. Ich versuche, mich zu erinnern, aber ich glaube, ich habe nie alle vier zusammen gesehen. Sie hassten einander in wechselnden Konstellationen, Konflikte zogen sich über Jahrzehnte hin.“ Auch er selbst scheint davon vergiftet. Die Angst der Großmutter Alex Schulman erinnert sich an die Ferien bei den Großeltern, an den ewig unzufriedenen, mürrischen Großvater und die beflissene, ängstliche Großmutter. „Ich erinnere mich an ihre ständige Unterwürfigkeit, ihre Angst vor seiner Wut… Ich begriff nicht, warum sie ihn…
Nordpolen, das ist ein eher unbekannter Landstrich zwischen Westpommern und Podlachien. Mit seinem gleichnamigen Buch will Carsten Heinke Lust auf Polen machen und Lust darauf, Neues zu entdecken. Also nicht die allseits bekannten Masurischen Seen, sondern lieber die nicht weniger schöne Pommersche Seenplatte. Nicht die Altstadt von Danzig, sondern das alte Werftgelände, Keimzelle des Widerstands der Werftarbeiter unter Lech Walesa gegen die kommunistische Diktatur und mit, wie der Autor meint, „großem Zukunftspotenzial“. Podlachien und die Dünen von Leba Und dann die menschenleere Woiwodschaft Podlachien im Vierländer-Eck Polen, Russland, Litauen und Belarus mit 23 Nationalparks. Unter seine Top 10 in Nordpolen rechnet Heinke die Altstat von Stettin und die Dünen von Leba, höchster Wandersandberg Polens, die Marienburg, das größte Werk der Backsteingotik, oder auch den Nationalpark Bialowieza mit seinen Wisent-Herden. Schiffe auf Schienen und Krummer Wald Auch Kuriositäten hat der Reisejournalist in Nordpolen entdeckt. Zum Beispiel den Oberlandkanal, wo auf einem Abschnitt Schiffe auf Schienen den Berg hochfahren oder den krummen Wald bei Gryfino, zu deutsch Greifenhagen. Kariertes Land der Slowinzen Wikinger, Slawen, westslawische Slowinzen, Tataren, Kaschuben, Juden – sie alle haben in Nordpolen ihre Spuren hinterlassen. Heinke empfiehlt zur Geschichte die Heimatmuseen wie das Freilichtmuseum in Kluki zu den Slowinzen….
Achtung Deutsche Bahn! Da droht Wiedererkennungsgefahr. In dem Büchlein „Wer später kommt, hat länger Zeit“ rechnet Dietmar Bittrich mit der Bahn ab. Und vieles, was er mit spitzer Feder aufspitzt oder öfter auch mal gallig kommentiert, stößt auch den Bahnkundinnen und -Kunden immer wieder sauer auf – nicht erst seit Einführung des 9-Euro-Tickets: Verspätungen, geänderte Wagenreihung, kaputte Klos, nicht vorhandene Bordrestaurants, Durchfahrten ohne Halt, Zugausfälle… Eine ganze Litanei könnte man da herunterleiern. Die Krise als Chance Doch Bittrich begnügt sich nicht mit der Aufzählung der Fehlleistungen der Deutschen Bahn. Dazu wären 157 Buchseiten auch zu viel. Ganz im Sinn eines klassischen Kabarettisten ermuntert er dazu, die Krise als Chance zu sehen, die Bahn als „rollenden Kurs in Wundern“. Da wird dann die geänderte Wagenreihung zum Training plus sozialer Interaktion, werden die Baustellen zum Power-Booster, der alternde Bahnhof zum Wegbereiter der Renaturierung und der Stillstand in der Pampa zur Stressbefreiung. Sündenbock Deutsche Bahn Das liest sich teilweise ziemlich lustig, führt aber in der Dauerschleife zu Ermüdungserscheinungen – selbst beim Lesen in der Bahn. Da hilft auch das vertrauliche „Du“ nicht, mit dem Dietmar Bittrich die Lesenden zu Komplizen seiner Bahnschelte machen will. Zumal die Deutsche Bahn auch für Dauertelefonierer, Hooligans und…
Wendelin Kretzschnuss heißt der Erzähler des Romans „Tage in Vitopia“, ein Eichhörnchen. Aufgeschrieben hat seine philosophierenden Ausführungen Ulla Hahn. Dass sich die 77-jährige Schriftstellerin hinter den Sciurus Vulgaris zurückzieht, hat ihr die Freiheit des Drauflos Fabulierens ermöglicht. Und das tut sie in dem Roman, der die Utopie eines guten Lebens in friedlicher Koexistenz von Mensch, Tier und womöglich auch Cyborg in den schönsten Farben zeichnet. Götter, Gelehrte und Gaia Wie in einem Wimmelbuch tauchen prominente Vertreter der Menschheit auf, Götter und Gelehrte ebenso wie Charaktere aus der Literatur. Schatzhauser, der Wünsche erfüllende Waldgeist aus Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ spielt eine Hauptrolle, Nils Holgersson, Kater Murr und Pinocchio sind dabei. Luther und Jesus von Nazareth, Franz von Assisi und Charles Darwin, Hildegard von Bingen, Marie Curie, Mutter Teresa, Richard Wagner, Wilhelm Hauff, Dichterfürst Goethe, sein persischer Kollege Hafis und unzählige andere geben sich bei den Tagen in Vitopia die Ehre, um die Menschheit wieder auf den rechten Weg zu bringen. Zurück zur Natur. Das ist vor allem das Anliegen von Gaia, der „großen Mutter Erde“, die unter den Zerstörungen der Umwelt ächzt. Marx und Morus Geleitet wird die Weltkonferenz im antiken Epidaurus von Karl Marx und Thomas Morus, von…