Das waren noch Zeiten, als die deutschen Herrschaften in Ostpreußen auf ihren Gütern noch regieren konnten wie kleine Herrscher. Die Dame des Hauses musste sich nur um die Organisation des Haushalts kümmern und manchmal vielleicht auch mit der Mamsell, der Hausdame, darüber streiten, wer das letzte Wort hat. Und natürlich Feste planen, bei denen die Freunde und Nachbarn zusammenkamen und man schauen konnte, ob die Kinder nicht zusammenpassen könnten. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Solange man unter sich blieb. Adel verpflichtet schließlich. Die mittellose Tochter muss unter die Haube Das bekommt auch Frederike zu spüren, die durchaus ein Gefühl für Gerechtigkeit entwickelt hat und einen Blick dafür, dass die Freuden der Gutsbesitzer manchmal mit der Ausbeutung der Dienerschaft erkauft sind. Trotzdem: An Auflehnung denkt das junge Mädchen auch dann nicht, als die Schwester wegen eines Techtelmechtels mit dem Sohn des Kutschers zu einer gestrengen Tante exiliert wird. Die Mutter hatte nach dem Tod ihres Vaters zwei Mal wieder geheiratet. Der aktuelle Stiefvater war der Bruder des verstorbenen Stiefvaters, und Frederike hat kein Erbe zu erwarten. Manchmal hat sie Angst, sie könnte zu einem Dasein als alte Jungfer verurteilt sein wie die unverheiratete Schwester ihres Stiefvaters, die ebenfalls auf dem Gut lebt….
Seine Reisebücher waren immer Ereignisse, denn Andreas Altmann ist ein Autor, der sich und anderen nichts schenkt. Aber auch einer, der um Worte nicht verlegen ist, der sagen kann, was er denkt, weil er die Sprache beherrscht. Nach „Gebrauchsanweisung für die Welt“ hat Altmann sich nun an einer „Gebrauchsanweisung für das Leben“ versucht. Radikale Denkanstösse Natürlich kann auch der Weitgereiste keine Antworten auf existenzielle Fragen geben, aber er kann Denkanstöße liefern. Auch da ist Altmann radikal. Die Aufforderung aus dem Film Creed an einen jungen Boxer „Du sollst nicht fügsam sein, du sollst leben“ könnte auch von ihm stammen. Schließlich ist ihm nichts so verhasst wie Fügsamkeit, Gehorsam, der „Ranz der Routine“ oder auch der „Terror der Ereignislosigkeit“. Nein, ein Rezept fürs Leben hat auch Altmann nicht, er kann nur gelungene Leben präsentieren, kann zeigen, wie lebensmutig so mancher Krüppel ist und wie halbtot so mancher Handy-Sklave. Ringen um ein erfülltes Dasein Manche der erzählten Episoden sind hinreißend in ihrer oft entlarvenden Ehrlichkeit, andere scheinen eher verzichtbar. „Dieses Buch ist kein Reiseführer, dieses Buch soll zum Leben anspornen,“ schreibt Altmann. Aber natürlich spielen auch in diesem Buch seine Reise-Erfahrungen eine Rolle, die Begegnungen mit einem Sterbenden am Ganges, mit Heimatlosen…
„Und so wurden wir ja wirklich das Wüten der ganzen Welt.“ (Koja Solm bei seiner späten Beichte) Ein Monsterbuch, eine monströse Geschichte: Chris Kraus rechnet in „Das kalte Blut“ auf 1200 Seiten mit der jüngeren deutschen Geschichte ab – und er mutet seinen Lesern ganz schön viel zu. Kein Wunder, dass der arme, kranke Hippie, dem der alte Konstantin (Koja) Solm 1974 im Krankenhaus seine Geschichte und die seines Bruders erzählt, fast verrückt wird. Es ist größtenteils keine erfundene Geschichte, die Kraus seinen Protagonisten erzählen lässt, es ist die Geschichte seines Großvaters. Schon in seinem Film „Die Blumen von gestern“ hat sich der Regisseur und Autor bei seiner Familiengeschichte bedient. Zwei Brüder und eine verhängnisvolle Affäre In dem breit angelegten Roman „Das kalte Blut“ lässt er den Großvater selbst zu Wort kommen. Sein alter Ego ist der Deutschbalte Koja, Sohn eines labilen Künstlers und einer stolzen Aristokratin und jüngerer Bruder des Theologiestudenten Hub, der sich zum fanatischen Nationalsozialisten wandelt. Auch Koja wird Nazi, das politische Engagement verbindet die Brüder ebenso wie die Liebe zu Ev, die als angenommene Schwester in der Familie aufwächst und erst spät erfährt, dass sie eigentlich Jüdin ist. Sie heiratet den Älteren und bekommt vom Jüngeren…